ESC: (Populär-)Wissenschaftliche Annäherung
Der europäische Gesangswettbewerb hat natürlich längst auch die Wissenschaft und Forschung erreicht, was sich nun auch in einer entsprechenden Buchpublikation niederschlägt: Rechtzeitig zum Song Contest 2015 gibt der Wiener Zaglossus-Verlag „eine kleine Geschichte zwischen Körper, Geschlecht und Nation“ heraus. In vier Sektionen wurden Beiträge verschiedener AutorInnen thematisch zusammengestellt: „Ethnisierung / Nation Building“, „Song Contest als Konfliktbühne“, „Körperpolitik / Bildpolitik“ und „Resonanzen“. Die Aufsätze, die unterschiedliche Relevanz und Qualität aufweisen, decken ein breites und vielfältiges Themenspektrum ab, und so ist wohl für die meisten LeserInnen etwas dabei – ob man nun an politischen Aspekten oder doch eher am queertheoretischen Diskurs interessiert ist. Man sollte sich halt nicht von Überschriften wie „Performative Praktiken der Disidentifikation und Anerkennung“ oder „Der Eurovision Song Contest als nicht-/ästhetisches Dispositiv kultureller Entgrenzung“ abschrecken lassen.
Mitunter erscheinen die Fragestellungen und Analysen allerdings etwas sehr konstruiert – und manchmal entsteht auch der Eindruck: je weiter hergeholt die Thesen desto hochgestochener der Wissenschaftskauderwelsch. Zwar ist es immer wieder faszinierend und höchst unterhaltsam (zumindest für den Autor dieser Zeilen) zu lesen, wie blumig akademisch und – im doppelten Wortsinn – „blendend“ man an und für sich ziemlich banale Dinge verbrämen kann (ich bewundere diese Fähigkeit mit großem Neid), aber – wie alles im Leben: nur in Maßen. Denn nach dem dritten Beitrag, der in solch hochtrabend intellektuellem Geschwurbel daherkommt, verebbt der Spaßfaktor nämlich schnell wieder, und die Sache wird ein bisschen mühsam. Wobei: Andererseits passt solch artifizielles Geschwafel ja irgendwie zum Song Contest, der ja oft mit Attributen wie camp und trash belegt wird, und so sollte man diese barocken Phrasen vielleicht einfach in dieselbe Kategorie von Campness und Trash einordnen wie den ESC selbst.
Ein wenig stört leider auch der Umstand, dass selbst in Beiträgen, die im großen und ganzen Hand und Fuß haben und spannende Zusammenhänge aufzeigen, wie etwa Maria Wiedlacks und Masha Neufelds Aufsatz darüber, wie Conchita Wursts Sieg in Kopenhagen sowohl in Russland als auch in Österreich als Antagonismus, ja „Krieg der Kulturen“ zwischen Ost und West hochstilisiert wurde, unreflektierte Behauptungen oder einseitige Prämissen aufgestellt werden, um die eigenen Thesen zu untermauern. So rätseln die genannten Autorinnen darüber, warum der ORF einen schwulen Kandidaten ins Rennen schickte, wo doch „der Staat Österreich bislang keinerlei Formen von Homonationalismus“, also positiver Anrufung schwuler und lesbischer StaatsbürgerInnen als Zeichen für nationalstaatliche Toleranz und Diversität, hervorgebracht habe (als ob das eine Voraussetzung dafür wäre, einen schwulen Kandidaten zum ESC schicken).
Ähnlich problematisch das Muster in Ina Matts Beitrag „Queer Nation Austria“. Sie setzt sich in ihrem Beitrag kritisch speziell mit der ORF-Doku Conchita – einfach persönlich und generell mit der vermeintlich überwiegend positiven Rezeption des Phänomens Conchita Wurst in Österreich auseinander. Leider reproduziert sie dann in ihrem – etwas hausbackenen – Fazit voreingenommen triviale Stereotype und sitzt ebenfalls den eigenen Vorurteilen auf, was man als betroffene/r Leser/in ebenfalls kritisch hinterfragen muss, etwa wenn sie formuliert: Der Medienhype um Conchita Wurst soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Österreich immer noch schwer ist, sich als nicht-heterosexuell begehrend zu outen und zu leben. Conchita Wurst und ihr Sieg beim ESC 2014 haben allerdings einen Impuls für eine öffentliche Auseinandersetzung mit einer Reihe von LGBT-Themen gegeben. – Kann man endlich damit aufhören, uns einreden zu wollen, wie furchtbar schwer ein Coming-out als Lesbe und Schwuler heute immer noch sei. Und dass wir auf Conchitas ESC-Sieg warten mussten, dass endlich die öffentliche Auseinandersetzung mit Homosexualität in Gang gekommen ist. Im Jahre 2015 geht einem solch paternalistisches Mitleidsgetue schon ein bisschen auf die Nerven.
Dass man seine Quellen so (einseitig) auswählt, dass sie dann zum womöglich schon vorgefassten Ergebnis führen, ist auch das Manko des Beitrags „Balkanovision Sowjet Contest“ von Michaela Hintermayr, die die Nachberichterstattung über den ESC 2007 in Helsinki analysiert. Damals gingen die Wogen hoch, weil auf den ersten 16 Plätzen mit Ausnahme der Türkei (4. Platz) und Griechenlands (7.) ausschließlich Balkan- bzw. ehemalige Ostblockländer gelandet waren. Die Autorin konzentriert sich auf die Reaktionen anonymer UserInnen auf Spiegel Online, Stern.de und deutscher Boulevardmedien, wodurch der Mythos von der Nachbarschaftshilfe und vom Blockvoten einseitig wiedergegeben und unverhältnismäßig verfestigt wird, ohne dass naheliegendere und logischere Erklärungen angeboten werden.
Ein gezieltes systematisches Punkte-Zuschanzen benachbarter bzw. befreundeter Nationen hat es natürlich nie gegeben. Vielmehr spiegelt seit Einführung des Televoting dieses sogenannte Diaspora-Voting deutlich die Gastarbeiter- und Migrationsströme sowie die Existenz von Volksgruppen und nationalen Minderheiten in Europa wider, wie der Autor dieser Zeilen anhand der Vergabe sämtlicher 8, 10 und 12 Punkte aller 42 Teilnehmerländer beim ESC in Helsinki nachgewiesen hat (LN 4/2007) und worüber die LN auch in der Folge immer wieder berichtet haben (vgl. # 4/2008, S. 32, # 3/2012, S. 28 ff). 2009 wurde dann übrigens die heute noch gültige Regelung eingeführt, dass die nationalen Wertungen je zur Hälfte durch eine Expertenjury und das Televoting ermittelt werden (vgl. LN 4/2009), wodurch das Diaspora-Televoting-Problem etwas entschärft wurde.
Dieses Jahr „widmet“ sich übrigens sogar ein ESC-Beitrag – nämlich der rumänische – dem Phänomen dieser modernen Gastarbeiterströme. Von den rund 20 Millionen RumänInnen arbeiten mehr als drei Millionen im Ausland. Und letztere werden – wie seit 2002 – wohl auch heuer wieder dafür sorgen, dass Rumänien zumindest ins Finale kommt, was man diesmal aber ohnehin nur unterstützen kann (vgl. auch Que(e)rschuss in diesem Heft).
Diese Rezension soll aber keineswegs einseitig negativ daherkommen: Das Buch enthält vielmehr zahlreiche spannende und informative Beiträge, etwa von Yulia Yurtaeva, die sich u. a. ausführlich mit den diversen Schlagerfestivals in Osteuropa in der Sowjetära befasst, die nicht zuletzt als Antwort auf den populären Grand Prix d’Eurovision ins Leben gerufen wurden. Bei aller Detailkritik ist der Reader auf jeden Fall eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die sich eingehender mit dem ESC befassen und sich dabei tiefer in die Materie einlassen wollen – über die reinen Fakten und Statistiken hinaus, die man ohnehin auf Wikipedia nachlesen kann.
Trivial pursuit
Wer sich hingegen lieber – oder zusätzlich – mit einer Menge unnützen Wissens und Anekdoten aus der 59-jährigen ESC-Geschichte beschäftigen will, dem/der sei das ebenfalls heuer erschienene Bändchen aus dem Wiener Holzbaum-Verlag „The Very Best Of Song Contest“ ans Herz gelegt. Die drei Herausgeber Werner Vogel, Bernhard Tscherne und Feri Janoska haben bei ihren umfangreichen Recherchen nicht nur Absurdes und Skurriles ans Tageslicht befördert (wie sie zu Beginn ihres Projekts dachten), sondern sind dabei auch auf sehr viel Interessantes, Erstaunliches, Bemerkens- und Bewundernswertes gestoßen, wie sie in ihrem Vorwort schreiben.
Und sie haben in der Tat viele Zahlen, Fakten und Sensationen sowie Anekdoten über Pleiten, Pannen und Peinlichkeiten zusammengetragen; von total Belanglosem (wie oft sind Lieder, die nur zwei Buchstaben im Titel haben, auf den zweiten Platz gelandet? – dreimal) bis zu durchaus Interessantem (wie oft haben Frauen das Live-Orchester, das 1999 endgültig abgeschafft wurde, dirigiert – ebenfalls dreimal!).
Die Autoren haben auch viel nachgezählt und gerechnet – wie viele Punkte wurden in den 59 bisherigen ESC vergeben? Exakt 69.379. Und das heißt, dass heuer in Wien am 23. Mai das elfte Land, das seine Wertung abgibt, mit der Vergabe seiner 10 Punkte die 70.000er-Marke durchbrechen wird! Insgesamt 1356 Lieder wurden bisher gesungen, die Play-Liste mit allen Songs ist 67 Stunden und 48 Minuten lang!
Natürlich passieren bei einer solchen Flut an Informationen auch kleine Schnitzer und Fehler. So heißt es auf S. 17, Barbara Dex sei dreimal für Belgien angetreten, was nicht zutrifft. Nach ihrem letzten Platz beim ESC 1993 trat sie zwar noch zweimal (2004 und 2006) beim belgischen Vorentscheid an, gewann diesen jedoch nicht.
Auch Europas Zwergstaaten werden verwechselt. San Marino sei das kleinste Land, das jemals am ESC teilgenommen habe, nämlich 2008 zum ersten und einzigen Mal (S. 20). Was doppelt unrichtig ist. Monaco ist flächenmäßig noch kleiner, und San Marino wird heuer in Wien zum sechsten Mal antreten! Dabei berichten die Autoren selber ein paar Seiten weiter (46) über die mehrfache musikalische Entwicklungshilfe Ralph Siegels für die Minirepublik in der Nähe von Rimini…
Interessant sind auch die kurzen Interviews mit ehemaligen österreichischen ESC-TeilnehmerInnen wie (besonders spannend) Richard Oesterreicher, der aus dem ORF-Nähkästchen plaudert, Tini Kainrath von den Rounder Girls, Gary Lux, Alf Poier sowie ORF-Langzeitkommentator Andi Knoll, der seinen Sager „Jetzt hat uns die den Schas gewonnen“ folgendermaßen erklärt: „Ich war wirklich unter Schock.“
Conchita Wurst: meine Geschichte
Auch Conchita hat rechtzeitig zum Songcontest in Wien ihre Biografie veröffentlicht: Auf knappen 120 Seiten erzählt sie ihre Geschichte, die sie mit 60 Seiten Fotos illustriert. Sie berichtet über ihre Kindheit und Jugend, ihre Ausbildung, ihr Coming-out, ihre künstlerischen Anfänge, natürlich den Höhepunkt von Kopenhagen – und die ersten Monate danach, die in der Tat etwas märchenhaft anmuten, als sie ihre Popularität in den Dienst ihrer Aktivitäten als Botschafterin für Toleranz und Respekt stellt, vor dem EU-Parlament und der UNO spricht und von einem Pride zur nächsten Gala durch die Welt jettet.
Man erfährt viel über Toms Werdegang, und seine Karriere ist in der Tat hart erarbeitet. Schon mit 15 stand er auf eigenen Beinen. Mit Konsequenz, Beharrlichkeit und viel Disziplin seine Ziele zu verfolgen ist nicht nur seine eigene Erfolgsdevise, sondern auch der Ratschlag an seine LeserInnen – im Leben, auch gegen Widerstände, das zu verwirklichen, was man erreichen will, wovon man träumt. Und dass man selbst dafür verantwortlich ist, was man aus seinem Leben macht. Man möge die Schuld nicht auf die Umstände schieben…
Conchita entpuppt sich als belesene, gebildete, reflektierte und politisch vife Person. Die freundliche, nicht konfrontative, aber bestimmte Art, mit der sie auch ihren GegnerInnen gegenübertritt, und ihr unerschütterlicher Optimismus, mit der Kraft der Überzeugung Positives erreichen zu können, sind keineswegs eine zu belächelnde Naivität, sondern eine authentische und glaubwürdige Grundhaltung, die man ihr abnimmt, die keine Masche ist und die sie ungeheuer sympathisch macht.
Und wenn Conchita formuliert: Ich dagegen entscheide mich nicht für den Hass, sondern für die Liebe. Und ich bin mir sicher, dass das für die Menschheit am Ende auch die einzige Lösung ist: Es leben über sieben Milliarden Menschen auf der Welt, und in den kommenden Jahren wird die Zahl sprunghaft steigen. Es ist abzusehen, dass irgendwann keine Mauer mehr hoch genug ist, um arm von reich, schwarz von weiß, homo von hetero zu trennen. Akzeptieren wir uns gegenseitig in Liebe, werden wir es schaffen. Bis dahin fechten Warlords und Diktatoren, Unterdrücker und Despoten ihre letzten Kämpfe aus. Am Ende werden sie chancenlos sein. Niemand kann uns aufhalten. Unsere Liebe ist stärker als ihr Hass – ja, dann mag das vielleicht naiv und weltfremd klingen, aber es drückt in Wahrheit eigentlich eine ebenso einfache wie reife und ebenso philosophische wie für alle verständliche Welt(ein)sicht aus, wie man sie gerne auch von PolitikerInnen hören möchte.
Mit diesem Buch beweist Conchista auch, dass ihr der märchenhafte Erfolg nicht zu Kopf gestiegen ist, sie mit beiden Beinen geerdet, selbstironisch und -reflektierend geblieben ist. Sie lässt die LeserInnen an ihren Aktivitäten und Treffen mit berühmten Persönlichkeiten teilhaben, ohne im geringsten irgendwelchen Voyeurismus zu bedienen. Es ist ein wirklich lesenswertes Büchlein, das auch sicherlich vielen jungen Schwulen und Lesben Mut machen kann, trotz möglicher Schwierigkeiten – oder der Angst davor – den eigenen Weg zu gehen, ohne sich zu verbiegen.
Rezensierte Bücher:
Christine Ehardt/Georg Vogt/Florian Wagner (Hg.): Eurovision Song Contest. Eine kleine Geschichte zwischen Körper, Geschlecht und Nation. Zaglossus-Verlag, Wien 2015.
Werner Vogel/Bernhard Tscherne/Feri Janoska: The Very Best Of Song Contest. Holzbaum-Verlag, Wien 2015.
Conchita Wurst • Ich, Conchita • Meine Geschichte • We are unstoppable. Aufgeschrieben und erzählt von Daniel Oliver Bachmann. Verlag LangenMüller, München 2015.