Behördenwillkür mit System: Kottan ermittelte – leider nicht
Ja, leider. Hätte Kottan in diesem Fall ermittelt, hätte sich die Sache wohl weitaus weniger peinlich für die Polizei entwickelt; mit Ruhm hat sie sich hier – wie so oft – wahrlich nicht bekleckert.
Auf jeden Fall wäre Kathryn Gilleran von Dolfi Kottan menschlicher und einfühlsamer behandelt worden als von den offenbar besonders takt- und gefühllosen und primitiven Exemplaren, an die die Mutter des seit 29. Oktober 2007 abgängigen und seither vermissten Aeryn Gillern bei der Wiener Polizei geraten ist. Die unterschiedliche Schreibweise der Nachnamen erklärt sich übrigens dadurch, dass Aeryn, dessen Geburtsname eigentlich Aeryn Michael John Jackson lautete (Aeryn machte sich in der Wiener Szene auch einen Spaß daraus, sich Michael Jackson zu nennen), nach der Scheidung der Eltern den Mädchennamen seiner Mutter annahm, wobei Kathryn ihren Geburtsnamen auf die herkömmliche irische Schreibweise des Namens – „Gilleran“ nach ihrem Vater – änderte. Es handelt sich hier also um keinen Tippfehler von uns.
Lost in translation
Abgesehen von frauen-, ausländer- und schwulenfeindlichen Haltungen und Vorurteilen weisen die handelnden Polizisten offenkundig insgesamt erhebliche Defizite in Sachen Kommunikation auf – angesichts der von Kathy Gilleran in Gone geschilderten Gespräche mit den Wiener Polizisten muss man davon ausgehen, dass es sich dabei nicht bloß um Sprachprobleme handelte.
Statt einfach klar und deutlich zu sagen, was Sache ist, haben sich die Beamten in ziemliche Widersprüche verwickelt – offensichtlich wollten sie Ruhe haben und haben daher aus Bequemlichkeit Dinge behauptet und Ermittlungsschritte erfunden, die dann einer Überprüfung nicht standhielten, was prompt den Boden für Verschwörungstheorien aufbereitete. Und jetzt hat die Polizei dadurch den berühmten „Scherm“ auf. Offenbar meint die Polizei auch, sie komme aus diesem Schlamassl nur mehr durch totale „Funkstille“ bzw. Nachrichtensperre raus. Das wird sich wohl wieder als totale Fehleinschätzung erweisen.
Dabei wäre es immer noch nicht zu spät, einfach die Fakten auf den Tisch zu legen und durch völlige Transparenz Aufklärung zumindest über die (nicht) erfolgten Ermittlungsschritte zu geben – statt aus fadenscheinigen Gründen des Datenschutzes und der Amtsverschwiegenheit sogar der Mutter Akteneinsicht zu verweigern. Aeryn, so die Argumentation der Polizei, könnte ja noch auftauchen und sich dann darüber beklagen, dass private Informationen über ihn durch die Übergabe der Akten an die Mutter dieser bekannt geworden wären. Für die Behörden ist es natürlich sehr praktisch, sich und ihr Ermittlungsfiasko hinter dem Datenschutz zu verstecken. In den nordischen Ländern hätte nicht nur die Mutter, sondern jeder Staatsbürger das Recht, in solche Behördenakten – wie übrigens in jeden anderen Akt staatlicher Verwaltung (und sei es in die Einkommensteuererklärung des Nachbarn) – Einsicht zu nehmen. Gäbe es eine solche Transparenz bei uns, hätten wir sicherlich weit weniger Korruption!
Wenn die Polizei von Anfang an der Meinung war (wofür einiges spricht), es liege kein Kriminalfall vor, und ohnehin nach der Devise handelt, nach bloß abgängigen Erwachsenen werde grundsätzlich nicht gesucht („Da hätten wir ja viel zu tun!“), denn irgendwann werde die Person – ob tot oder lebendig – schon wieder auftauchen, dann hätte sie ihre Untätigkeit ja durchaus in diesem Sinne öffentlich rechtfertigen können. In der Tat hat einer der ermittelnden Beamten in einem Telefongespräch mit dem Autor dieser Zeilen am 21. Dezember 2007, also zwei Monate nach Aeryns Verschwinden, angedeutet, dass man davon ausgehe, dass Aeryn im Donaukanal ertrunken sei. In der kalten Jahreszeit würde eine Leiche am Boden bleiben, erst wenn es im Frühjahr wärmer und die Leiche zu verwesen beginne, würde sie durch die dabei entstehenden Gase an die Oberfläche getrieben. Nach dem Motto: Was soll man sich jetzt mitten im Winter groß anstrengen, um die Leiche zu finden, wenn sie im Frühling sowieso dann im wahrsten Sinne des Wortes von selber „auftauchen“ würde. Doch Aeryns Leiche ist bis heute nicht aufgetaucht. Der Mutter hat man jedoch von aufwendiger Suche durch Polizeitaucher erzählt, die offenbar gar nie stattgefunden hat…
Roter Faden
Aber selbst wenn die österreichische Polizei von einem Verbrechen (und nicht von einem Selbstmord oder Unfall) ausginge, hieße dies noch lange nicht, sie würde sich besonders anstrengen, es aufzuklären und den allfälligen Mörder zu finden. Gerade wenn AusländerInnen in Österreich verschwinden oder tot aufgefunden werden (und nicht auf den ersten Blick unzweifelhaft als Opfer eines Gewaltverbrechens zu erkennen sind), scheint sich die Polizei gerne die mühsame Ermittlungsarbeit ersparen zu wollen. Da hat es in den letzten Jahren einige unglaubliche Skandale gegeben, die im Ausland, insbesondere in den Heimatländern der Opfer, großes Aufsehen erregten und nicht gerade imagefördernd für die heimische Exekutive gewesen sind. Inkompetenz und Schlamperei paaren sich häufig mit simpler Faulheit und Schlendrian.
Unter diesen spektakulären Fällen aus jüngster Zeit sind etwa jene von Raven Vollrath, Susi Greiner und Denisa Šoltísová. Vollrath war ein junger deutscher Saisonarbeiter, der im Dezember 2005 in Tirol spurlos verschwand. Auch in diesem Fall wurden die Angehörigen von der Polizei abgewimmelt: Er habe sich vermutlich eine neue Arbeitsstelle gesucht und sei wohl weitergezogen. Das passiere hundertfach in jeder Wintersaison. Er sei schließlich erwachsen. Als sechs Monate später Vollraths verweste Leiche auf einer Matratze in einem Bachbett in der Nähe seiner Unterkunft gefunden wurde, verstieg sich die Polizei in Komplizenschaft mit der Staatsanwaltschaft auf die hanebüchene Theorie, Vollrath sei wohl volltrunken und nur mit einer Unterhose bekleidet mit der Matratze bei minus 11° C zwei Kilometer durch die Nacht spaziert und dann erfroren – und stellte die Untersuchungen ein. So kann man sich als Behörde natürlich auch unangenehme Arbeit vom Hals schaffen.
Doch Vollraths Eltern wollten weder an Selbstmord noch an ein Unglück im Alkoholrausch glauben und ließen nicht locker. Allein ihrer Hartnäckigkeit war es zu verdanken, dass die Sache aufgeklärt wurde: Sie machten soviel Wirbel, dass im Februar 2008 schließlich die Mutter von Ravens Freund, Arbeits- und Zimmerkollegen gestand, ihr Sohn habe Raven mit einem Küchenmesser erstochen. Am 28. November 2011 zeigte RTL 2 eine Doku über „Ravens Schicksal“ in der Serie „Tatort Ausland – Mörderische Reise“ mit „wahren Geschichten von Menschen, deren Trip ins vermeintliche Paradies zu einer Reise ohne Wiederkehr wurde“.
Susi Greiner war – ebenfalls – eine junge deutsche Saisonarbeiterin, die im August 2006 in Tirol tot aufgefunden worden war. Auch hier schlossen Polizei und Staatsanwaltschaft Fremdverschulden aus, wiewohl die nackte Leiche auf 2000 Meter Höhe gefunden worden war, ihr Auto und ihre Kleider jedoch im Tal. Die abstruse Annahme der Behörden: Die junge Frau sei barfuß und nackt auf 2000 Meter aufgestiegen und dann in selbstmörderischer Absicht am Berg erfroren – an den Fußsohlen der Toten fanden sich jedoch keinerlei Anzeichen eines derartigen Aufstiegs. Vermutlich wurde die junge Frau ermordet und am Fundort abgelegt. Dennoch wurde der Fall von den Behörden ohne weitere Untersuchungen geschlossen. So kann man als Behörde natürlich jede Verbrechensstatistik schönen, und die Arbeit hat man sich einmal mehr erspart. Das scheint in Tirol ja nicht einmal mehr Schlamperei zu sein, sondern volle Absicht.
Ähnlich mysteriös und unaufgeklärt ist der Tod der 29-jährigen slowakischen Altenpflegerin Denisa Šoltísová, deren nackte Leiche im Jänner 2008 in der Ager bei Vöcklabruck gefunden worden war. Bereits nach fünf Stunden war der Fall für die oberösterreichischen Behörden erledigt und wurde sofort ad acta gelegt: Selbstmord lautete das Ergebnis. In der Slowakei wurde später eine Obduktion vorgenommen: Dabei wurden im Gewebe der Toten Spuren von Medikamenten gegen Krankheiten gefunden, an denen sie gar nicht litt. Auch Spuren von Gewalteinwirkung, die auf ein sexuelles Motiv hinweisen könnten, wurden entdeckt. Šoltísová wurde höchstwahrscheinlich ermordet, ihr Mörder bis heute nicht überführt. Martin Leidenfrost hat darüber ein Buch geschrieben: Die Tote im Fluss – Der ungeklärte Fall Denisa Š., erschienen im Residenz-Verlag, St. Pölten 2009.
Fazit: Als Ausländer/in sollte man in Österreich lieber nicht spurlos verschwinden oder eines gewaltsamen Todes sterben, ohne eine Pistolenkugel oder ein Messer im Körper zu haben, damit für jeden ermittelnden Kottan unübersehbar ist: Achtung Mord! Denn die Einstellung von Polizei und Staatsanwaltschaft: „ein Ausländer? – Could not care less! Da verschwenden wir unsere Zeit erst gar nicht mit aufwendigen Erhebungen, Ermittlungen und Fahndungen“ zieht sich wie ein roter Faden durch diese Fälle… Und schließlich haben Polizei und Staatsanwaltschaft ja wichtigere Prioritäten beim Einsatz ihrer kostbaren Ressourcen, etwa der Jäger- und Pelztierzuchtlobby einen Gefallen zu tun und mit gigantischem personellem und finanziellem Aufwand harmlose TierschützerInnen jahrelang zu verfolgen!
Steht dennoch zu hoffen, dass sich im Falle Aeryn Gillerns durch die neuerliche mediale Beschäftigung doch noch ZeugInnen melden, die über die Umstände seines Verschwindens neue zweckdienliche Angaben machen können.
Nachträgliche Anmerkungen:
In derselben LN-Ausgabe erschien ein Bericht von ANETTE STÜHRMANN über den Dokumentarfilm Gone, der bei der Viennale im Oktober 2011 seine Österreich-Premiere hatte.
Nicht zuletzt wegen der Hartnäckigkeit von Aeryns Mutter wurde der Fall 2014 von der Cold-case-Einheit des Bundeskriminalamts nochmals aufgerollt, allerdings ohne Ergebnis. 2018 wurden die Ermittlungen dann endgültig eingestellt, der Fall jedoch offiziell nicht geschlossen.
Über den Fall kann man sich im Internet ausführlich informieren: einfach Aeryns Namen googeln und/oder die Website seiner Mutter ansurfen: http://www.aeryngillern.com