Verfassungsgerichtshof – Noch eine Tochter der Zeit
Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 209 durch den VfGH ist ein Lehrbeispiel par excellence für die weitverbreitete Homophobie innerhalb der österreichischen Justiz. Vier Verfassungsbeschwerden hat der VfGH zurück- bzw. abgewiesen – drei Beschwerden aus 1986, 1988 und 1989, die die HOSI Wien unterstützte und finanzierte, sowie den ersten Antrag des Oberlandesgerichts Innsbruck –, bis ihm jetzt aufgrund des Drucks internationaler Menschenrechtsorgane und des Europäischen Parlaments nichts anderes übrigblieb, als bei der fünften seine früheren Entscheidungen zu revidieren. Wer sich die Mühe macht, die Eingaben und Erkenntnisse aller fünf Verfahren durchzulesen, wird objektiv feststellen können, daß alle fünf Beschwerden äußerst fundiert waren und der VfGH bei gutem Willen jeder einzelnen von ihnen stattgeben hätte können. Daher läßt sich auch leicht nachvollziehen, daß es einzig und allein das Bestreben des VfGH war, Gründe für die Zurück- bzw. Abweisung der Beschwerden zu finden.
Und so kam es zur Aufhebung: Im Mai 2001 unterbrach das Oberlandesgericht Innsbruck ein 209er-Verfahren, um das Sondergesetz vom VfGH auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüfen zu lassen. Das stürzte den VfGH in ein Dilemma: Entweder er stößt sein Urteil aus 1989, mit dem er § 209 für verfassungskonform erklärte, um und gibt damit seinen Irrtum zu, den seither 250 Menschen mit Gefängnisstrafe büßen mußten, oder er bestätigt es um den Preis, sich lächerlich zu machen und ein paar Monate später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte korrigiert zu werden.
Bald wurde klar, daß es dem VfGH auch diesmal nicht um Gerechtigkeit oder die Durchsetzung von Menschenrechten ging, sondern bloß darum, sich mit möglichst geringem Gesichtsverlust aus der Affäre zu ziehen. Zuerst probierte er es mit einer formalistischen Spitzfindigkeit: Im November 2001 wies er den Antrag mit der Begründung zurück, er könne nicht nochmals dieselbe Sache anhand derselben Argumente (Bedenken) überprüfen – dem stehe das Prozeßhindernis der sogenannten „entschiedenen Sache“ im Wege. Das OLG hatte in seinem Aufhebungsantrag – wie auch die drei Beschwerden in den 1980er Jahren – im wesentlichen auf die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung abgestellt und gegen die Begründungen argumentiert, mit der § 209 gerechtfertigt wurde (Prägungstheorie).
Das OLG gab sich jedoch nicht geschlagen und legte dem VfGH einen neuen Antrag vor, in dem er ein vermeintlich neues Bedenken vorbrachte, die sogenannte „wechselnde Strafbarkeit“, also den Umstand, daß ein und dieselbe Beziehung zwischen Straffreiheit und Strafbarkeit hin- und herwechseln kann (Beispiel: einer ist 16, der andere 18 – Beziehung ist legal; wird der Ältere 19, wird sie für ihn strafbar; wird der Jüngere 18, wird sie wieder legal). Gleichzeitig argumentierte das OLG, daß sein erster Antrag sehr wohl ein neues Vorbringen zu den alten Bedenken enthalten habe und daß es überdies gängige Spruchpraxis des VfGH sei, dieselbe Rechtsnorm ein zweites Mal zu prüfen, wenn sich die Umstände und Verhältnisse ändern. So hat der VfGH in anderen Verfahren sehr wohl festgestellt, daß die Nichtanpassung an geänderte sachliche Erfordernisse dazu führen könne, daß eine Rechtsnorm im Lauf der Zeit verfassungswidrig wird. Frei nach Andreas Khol: „Die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ist eine Tochter der Zeit.“
Fauler Trick
Wie sich also herausstellte, war die Entscheidung des VfGH vom November ein fauler Trick, für den der VfGH vom Autor dieser Zeilen bereits am 6. Dezember 2001 im Standard heftig kritisiert wurde. Die Zurückweisung mit der fadenscheinigen Begründung von der „entschiedenen Sache“ ist auch ein Indiz dafür, daß der VfGH zu diesem Zeitpunkt noch wild entschlossen war, § 209 zu halten. Offenbar rechnete er nicht mit der Ausdauer des OLG und einem zweiten Antrag. Hätte der VfGH zu diesem Zeitpunkt § 209 wirklich aufheben wollen, hätte er noch den Königsweg aus seiner verfahrenen Lage beschreiten können: Mit dem simplen Hinweis auf die Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskommission aus 1997, wonach unterschiedliche Mindestaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Beziehungen eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention darstellen, hätte er § 209 als verfassungswidrig aufheben können.
Daß der VfGH gar keine einheitliche Argumentationslinie hatte, zeigte sich am 22. Februar 2002 bei der Pressekonferenz des VfGH, auf der die Tagesordnung der Frühjahrssession vorgestellt wurde und Vizepräsident Karl Korinek meinte, die Prägungstheorie müsse widerlegt werden – also keine Rede von neuen Bedenken. Als zudem noch angekündigt wurde, daß mit einer Entscheidung im März nicht zu rechnen sei, gab es wieder Kritik an dieser Verzögerungstaktik durch den Autor dieser Zeilen. Denn für einen weiteren Aufschub der Entscheidung gab es nicht den geringsten Grund, hatten doch in Wirklichkeit internationale Menschenrechtsorgane dem VfGH ohnehin längst die Arbeit abgenommen. An der Menschenrechtswidrigkeit des § 209 konnte nicht der geringste Zweifel mehr bestehen.
Langsam schien sich auch der VfGH damit abzufinden, wozu sicherlich die harsche Kritik der HOSI Wien beitrug. Da sie jedoch in ihrer November-Entscheidung auf einem neuen Bedenken bestanden hatten, mußten sie das im zweiten Antrag gelieferte, angeblich neue Bedenken der „wechselnden Strafbarkeit“ aufgreifen. Eine viel elegantere Art und Weise – weil unangreifbarer –, sich aus der Affäre zu ziehen, wäre eben gewesen, sich auf neue Umstände (siehe oben) und wissenschaftliche Erkenntnisse zu berufen, aber diesen Weg hatten sie sich ja mit der November-Entscheidung verbaut. So kam es dann, daß § 209 im Juni 2002 anhand dieses Nebenaspekts aufgehoben wurde. Und der VfGH ersparte sich jede weitere inhaltliche Auseinandersetzung.
Leider hat man übersehen, daß das angeblich neue Bedenken gar nicht neu war, sondern ebenfalls bereits in der 209er-Beschwerde aus 1988 vorgebracht worden war. Die HOSI Wien – nachtragend und gnadenlos, wie sie nun einmal ist – ließ sich durch den Triumph über FPÖVP und VfGH keineswegs besänftigen und davon abhalten, ihre Finger in diese Wunde zu legen – im Gegenteil! Immerhin bedeutet dieser Umstand, daß der VfGH 1989 eindeutig ein Fehlurteil gefällt hatte, was er jetzt selber bestätigte – hätte er doch damals schon die „wechselnde Strafbarkeit“ berücksichtigen müssen – und daß daher alle seit 1989 gemäß § 209 Inhaftierten nicht nur menschenrechtswidrig, sondern aufgrund einer Fehlentscheidung des VfGH im Gefängnis gesessen sind – immerhin rund 250 Personen. Der VfGH hat damit unermeßliche Schuld auf sich geladen!
Klestil gefordert
Am 28. Juni übte der Autor dieser Zeilen in einem Standard-„Kommentar der anderen“ heftige Kritik am VfGH wegen seiner „Schwindelnummer“ und forderte eine Entschuldigung der VerfassungsrichterInnen und volle Rehabilitierung ihrer Opfer durch die Republik Österreich. Die HOSI Wien beschloß in ihrer Vorstandssitzung am 1. Juli, sich in dieser Angelegenheit an Bundespräsident Thomas Klestil zu wenden (mehr dazu und über den ersten Gesprächstermin in Klestils Büro am 12. Juli im Beitrag auf S. 14 ff). Angesichts der Folgen, die das Fehlurteil des VfGH aus 1989 gehabt hat – 250 rechtswidrige Inhaftierungen – konnten wir natürlich mit unserer berechtigten Kritik keine Rücksicht darauf nehmen, daß wir uns damit in schlechter Gesellschaft befinden. Es wäre ein Verrat an den Opfern des § 209, würden wir den VfGH und seine Urteile für sakrosankt erklären, wie das viele nach den unqualifizierten Angriffen Jörg Haiders auf den VfGH getan haben. Nur Robert Menasse hat eine differenzierte Stellungnahme im Standard vom 23. Februar abgegeben und sich geweigert, die VerfassungsrichterInnen vorbehaltlos in Schutz zu nehmen, nur weil sie von Haider angegriffen werden. Dort meinte er: „Und die ‚Helden‘ des Verfassungsgerichtshofs, die ich gegen Haider verteidigen soll, sind nebenbei dafür mitverantwortlich, daß heute in diesem Land Dutzende Männer wegen eines mittelalterlichen Schutzaltersparagraphen im Gefängnis sitzen, weil sie liebten, während jeder, der Anderssprachige haßt, ein freier Bürger sein darf.“
Irgendwie kommen wir uns vor wie in H. C. Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Alle sehen, daß der VfGH nackt ist, aber niemand traut sich, es laut zu sagen. Peinlich, daß alle anderen Lesben- und Schwulenvereine jetzt dazu schweigen, daß er uns 15 Jahre lang unsere Menschenrechte vorenthalten hat.
Nachträgliche Anmerkung:
Links zu früheren Beiträgen über die Abschaffung des § 209 StGB auf diesem Website:
§ 209: Verfassungsgerichtshof setzt auf Zeitgewinn (LN 1/2002)
§ 209: Warten auf den Verfassungsgerichtshof (LN 4/2001)
Regierungsbildung: § 209 & Co ein Thema? (LN 1/2000)
Trauerspiel im Parlament: § 209 StGB bleibt (LN 4/1998)