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§ 209: Noch immer Gulag-Fälle in Haft

Veröffentlicht am 15. Oktober 2002
Nachdem der VfGH § 209 StGB im Juni 2002 für verfassungswidrig erklärt hatte, trat die Strafbestimmung am 14. August 2002 endgültig außer Kraft. Trotzdem wurden nicht sofort alle 209er-Gefangenen automatisch aus den Haftanstalten entlassen. Die HOSI Wien hatte diesbezüglich noch einiges zu tun, wie ich in den LN 4/2002 berichtete. Die Ernennung von Karl Korinek zum VfGH-Präsidenten konnte sie jedoch nicht verhindern.

Karl Korninek (1940–2017) wurde nach dem Scheitern der ersten blau-schwarzen Regierung 2002 noch schnell vor den Neuwahlen zum Präsidenten des VfGH ernannt (hier 2003). Ich nannte es eine Schande für das Land, dass dieses Auslaufmodell an die Spitze des VfGH berufen wurde.

Nachdem das Gesetz über die Aufhebung des § 209 am 25. Juli den Bundesrat passiert hatte und am 13. August im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde, trat § 209 am 14. August 2002 endgültig außer Kraft. Trotzdem befinden sich zu schreibender Stunde immer noch 209er-Gefangene in österreichischen Gefängnissen. Zwar würde jede/r mit normalem durchschnittlichem Rechtsempfinden davon ausgehen, daß mit dem Wegfall einer Strafbestimmung automatisch und sofort auch alle aufgrund dieser Bestimmung inhaftierten Personen aus den Gefängnissen entlassen würden, aber dem ist leider nicht so. Da gilt es erst, die Justizbürokratie zu überwinden. Denn offenbar hat man für diese Fälle nicht wirklich entsprechend vorgesorgt – Göttin sei Dank werden ja nicht jeden Tag in Österreich menschenrechts- und verfassungswidrige Strafbestimmungen aufgehoben.

Die HOSI Wien hat jedenfalls vorsorglich bereits am 18. Juli an Justizminister Dieter Böhmdorfer ein Schreiben gerichtet und ihn aufgefordert, für die Freilassung aller 209er-Gefangenen bis 31. Juli 2002 zu sorgen. Diese Aufforderung haben wir auch in einer Presseaussendung am 18. Juli bekanntgegeben. Die Presse und die Wiener Zeitung berichteten am 19. Juli.

Unser Schreiben führte zu intensivem Telefon- und E-Mail-Kontakt mit der Leiterin von Böhmdorfers Kabinett, Katharina Peschko-Gruber. Sie teilte uns bereits am 25. Juli mit (aufgrund des Ultimatums kam die schriftliche Antwort sehr prompt), daß seit dem Vorliegen des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofs vom 21. Juni (vgl. ausführliche Berichterstattung in den LN 3/2002) die staatsanwaltschaftlichen Behörden angewiesen sind, „ab sofort auf der Grundlage dieser Strafnorm keine Verfolgungsschritte oder Maßnahmen zu gründen, die zu Zwangsmaßnahmen führen. Damit wurde in einem ersten Schritt sehr prompt auf die geänderte Lage reagiert.“ Dem Ministerium sind damals auch bereits zwei Gnadengesuche vorgelegen, die erforderlichen Gnadenverfahren würden voraussichtlich in Kürze abgeschlossen sein, wobei nur einer der beiden Betroffenen sich in Haft befand. Peschko-Gruber schränkte allerdings ein, daß in jedem einzelnen Fall „u. a. auch anhand § 207b zu prüfen ist, ob ein gänzlich straflos gewordenes Tatverhalten vorliegt“.

Zu den Gulag-Fällen, also jene, die in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen worden sind, wurde uns mitgeteilt, daß sich „mehrere Personen“ im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs 2 StGB befinden, wobei aber jeweils auch zumindest ein anderes Delikt neben einem Schuldspruch nach § 209 aufscheint. „Ob hier im Wege staatsanwaltschaftlicher Antragstellung eine Entlassung herbeigeführt werden kann, wird gegenwärtig geprüft.“

Da im Zuge dieser Kontakte zum Justizministerium deutlich wurde, daß es sich nur mehr um einige Einzelfälle handelt, nahmen wir schließlich davon Abstand, unsere Drohung wahr zu machen und im August die internationalen Staatengemeinschaft und Menschenrechtsorganisationen in diese Angelegenheit einzuschalten. Wir hatten auch den Eindruck, daß sich das Justizministerium im Rahmen seiner Möglichkeiten durchaus bemühte. So hat es tatsächlich die Staatsanwaltschaft in konkreten Fällen angewiesen, bei Gericht den Antrag auf Entlassung von Betroffenen zu stellen. Aber die Letztentscheidungen im Zusammenhang mit der Freilassung von 209er-Gefangenen werden von den unabhängigen Gerichten gefällt, denen das Ministerium keine Weisungen erteilen kann. Ein Gulag-Gefangener wurde schließlich am 23. September aus der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher entlassen.

 

Gerichte als „Volkssturm“

Leider meinten einige dieser „unabhängigen“ Richterinnen an verschiedenen Gerichten offenbar, sie müßten „Volkssturm“ spielen und den Paragraphen noch mit allen Mitteln bis zum bitteren Ende verteidigen, obwohl das 209er-Reich bereits definitiv untergegangen war. Dabei kam es auch zu unterschiedlicher Gesetzesauslegung. Betroffene hatten nämlich um nachträgliche Strafmilderung gemäß § 31a StGB angesucht. Eine solche kann dann gewährt werden, wenn Umstände eintreten, die eine mildere Behandlung des Täters angezeigt erscheinen lassen – sie hätte in den konkreten 209er-Fällen zur sofortigen Entlassung der Betroffenen geführt. Während in einem Fall eine Richterin am Landesgericht Korneuburg im August die Rechtsansicht vertrat, der Wegfall einer Strafbestimmung sei kein Grund für eine nachträgliche Herabsetzung der Strafe im Sinne des § 31a (und den Antrag ablehnte), war eine Richterin am Landesgericht Innsbruck ebenfalls im August gegenteiliger Auffassung – eine nachträgliche Strafmilderung aufgrund geänderter Rechtslage sei grundsätzlich möglich –, lehnte eine solche aber im konkreten Fall dennoch ab. Noch vor der Entscheidung über die Berufung dagegen ans OLG Innsbruck wurde der Betroffene am 1. September aufgrund eines Beschlusses des zuständigen Vollzugsgerichts enthaftet. Die westösterreichischen Gerichte zeigten sich einmal mehr liberaler. In Wien hat hingegen das Oberlandesgericht Ende September die Entscheidung des LG Korneuburg vollinhaltlich bestätigt und eine Strafmilderung abgelehnt. HOSI-Wien-Obmann CHRISTIAN HÖGL wurde übrigens am 23. August zum „Korneuburger“ Fall in einer englischsprachigen Sendung auf FM 4 interviewt.

Aufgrund dieses Umstands, daß einige RichterInnen die Durchsetzung der Menschenrechte auf diese unerträgliche Weise torpedieren, forderten wir am 30. August Justizminister Böhmdorfer auf, für eine entsprechende gesetzliche Klarstellung zu sorgen, um diese unwürdige Sabotage der Gerichte zu beenden. Offenkundig, so argumentierten wir, wäre der schnellere Weg, den Betroffenen endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, im Parlament eine Regelung zu beschließen, durch die bei Wegfall einer Strafbestimmung eben automatisch Gerichtsurteile hinfällig werden und Verurteilte automatisch aus dem Gefängnis entlassen werden bzw. durch die dem Justizminister die Kompetenz übertragen wird, von sich aus die Freilassung solcher Gefangener zu veranlassen. Wir forderten Böhmdorfer auf, eine entsprechende gesetzliche Regelung vorzuschlagen und deren Beschlußfassung durch das Parlament in die Wege zu leiten: „Das könnte ja mindestens so rasch erfolgen wie im Juli die Verabschiedung des neuen § 207b.  Eine solche dringende Regelung könnte in den ersten Tagen nach der Sommerpause vom Nationalrat beschlossen werden, wenn sie vom Justizministerium entsprechend vorbereitet würde. Der Zeithorizont scheint jedenfalls kürzer, als wartete man darauf, daß die Mühlen der Gerichte über die Eingaben und Berufungen etc. entscheiden und die (sexual-)politischen und Gulag-Gefangenen auf diese Art endlich ihre gerechte Freiheit erhalten.“ Ein paar Tage später platzte allerdings die blau-schwarze Koalition, und daher war es sinnlos, diese Forderung weiterzuverfolgen.

 

Erste Begnadigung durch Klestil

Während das Ministerium die staatsanwaltschaftliche Antragstellung auf Entlassung Betroffener durch entsprechende Weisung unterstützt hat, scheint Böhmdorfer bei den Gnadenverfahren offenbar zurückhaltender zu sein. Das ist insofern problematisch, als der Bundespräsident nur aufgrund der Vorschläge des Justizministers Inhaftierte begnadigen kann. Eine erste Begnadigung erfolgte am 23. September. Das Gespräch der HOSI Wien mit Thomas Klestils Kabinettsdirektor Helmut Türk in der Präsidentschaftskanzlei am 12. Juli [vgl. LN 3/2002, S. 14 ff] hat sicherlich dazu beigetragen, daß von seiten des Bundespräsidenten die Begnadigungen reibungslos durchgeführt werden. Aber Klestil konnte in diesem Fall keine vollständige Begnadigung aussprechen, weil sich Böhmdorfer weigerte, auch die Tilgung der Verurteilung aus dem Strafregister dem Bundespräsidenten vorzuschlagen. Böhmdorfer hat es auch abgelehnt, Klestil die entsprechende Begnadigung des am 1. September enthafteten Gefangenen vorzuschlagen, von dem vorhin die Rede war.

Das zeigt, daß es bei einem FPÖ-Justizminister trotz allem Grenzen dafür gibt, wie mit der Rehabilitierung von Menschen umgegangen wird, denen die Justiz Unrecht zugefügt hat. Sollte es zu einer rot-grünen Koalition nach den Wahlen kommen, wird man aber dann sowieso ernsthaft über eine umfassende Rehabilitierung aller strafrechtlich Verfolgten im 20. Jahrhundert bis heute diskutieren müssen. Die HOSI Wien hat ja mit ihrer auf der diesjährigen Generalversammlung verabschiedeten Resolution die entsprechende Vorarbeit geleistet.

 

Kritik an Korinek-Bestellung

Böhmdorfer & Co waren in den Wochen nach dem Rücktritt der Vizekanzlerin und der Ausrufung von Neuwahlen nur mehr damit beschäftigt, in Torschlußpanik noch schnell Parteifreunde wichtige Posten zuzuschanzen, ihnen nahestehenden rechten Vereinen fette Subventionen zu gewähren (der Verband der Volksdeutschen Landsmannschaften durfte noch schnell 100 Millionen Schilling Jahresförderung kassieren). Auch beim Verfassungsgerichtshof wurde noch eilig das Karussell der Freunderl- und Vetternwirtschaft in Gang gesetzt, galt es doch, das Amt des Präsidenten neu zu besetzen. Um noch rechtzeitig den schwarzen Vizepräsidenten Karl Korinek auf den Präsidentensessel hieven zu können, wurde die übliche Ausschreibungsfrist von sechs bis acht Wochen kurzerhand auf zweieinhalb Wochen reduziert und auf ein Hearing der KandidatInnen verzichtet. Am 1. Oktober wurde bekanntgegeben, daß Blau-Schwarz Korinek zum VfGH-Präsidenten bestellt hat. Korinek war einer jener fünf Verfassungsrichter, die sowohl 1989 als auch 2002 am 209er-Erkenntnis mitgewirkt haben. Daß ausgerechnet dieses Auslaufmodell an die Spitze des VfGH berufen wurde, konnte die HOSI Wien nicht unkommentiert lassen. In einer Medienaussendung am 2. Oktober kritisierten wir diese Bestellung heftig.

 

Nachträgliche Anmerkungen:

In Sachen Ernennung Korineks zum VfGH-Präsidenten siehe auch die Aussendung der HOSI Wien vom 14. Oktober 2002.

 

Aus der ausführlichen Berichterstattung über die Aufhebung des § 209 StGB durch den VfGH in der oben erwähnten LN-Ausgabe 3/2002 habe ich drei meiner Beiträge für diese Website übernommen:

§ 209 StGB endlich gefallen – Historischer Sieg für Schwule und Lesben, Riesenschlappe für FPÖVP

Verfassungsgerichtshof – Noch eine Tochter der Zeit

§ 209: HOSI Wien wendet sich an Bundespräsident Klestil

 

Links zu früheren Beiträgen über die Abschaffung des § 209 StGB auf diesem Website:

§ 209: Verfassungsgerichtshof setzt auf Zeitgewinn (LN 1/2002)

§ 209: Warten auf den Verfassungsgerichtshof (LN 4/2001)

Regierungsbildung: § 209 & Co ein Thema? (LN 1/2000)

Trauerspiel im Parlament: § 209 StGB bleibt (LN 4/1998)