Osteuropakonferenz in Wien
Die LAMBDA-Nachrichten haben in zwei Vorberichten schon ausführlich über die umfangreichen Vorbereitungsarbeiten für diese Tagung berichtet (LN 1/1993, S. 30, und 2/1993, S. 28 f). Hier sei nur das Wichtigste kurz wiederholt: Die Tagung wurde finanziell u. a. vom Europabüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Kopenhagen, vom Gesundheits- und vom Frauenministerium sowie von verschiedenen Stellen der Stadt Wien unterstützt. Die HOSI Wien ist eine der wenigen Lesben- und Schwulenorganisationen der Welt, die jemals von der WHO finanzielle Unterstützung für ein Projekt erhalten haben. Das unterstreicht einmal mehr den hervorragenden Ruf, den die HOSI Wien und ihre im AIDS-Bereich tätigen MitarbeiterInnen international genießen. Gesundheitsminister Michael Ausserwinkler (SPÖ) und Wiens Gesundheitsstadtrat Sepp Rieder übernahmen den Ehrenschutz.
Neue alten Hindernisse
Der HOSI Wien gelang es, insgesamt über S 400.000,– an Subventionen und Sponsorengeldern aufzutreiben. Schließlich konnten wir damit die Teilnahme von 128 Personen aus 15 osteuropäischen Ländern finanzieren (Belarus, Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Rußland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Ukraine).
Der Aufenthalt (Übernachtung mit Vollpension und Konferenzkosten) wurde für alle OsteuropäerInnen aus diesem Konferenzbudget bezahlt, den meisten wurden auch ihre Reisekosten erstattet. Eine derart große Zahl von gesponserten TeilnehmerInnen hat es noch bei keiner ILGA-Konferenz gegeben. Einige der 140 eingeladenen TeilnehmerInnen konnten dann im letzten Augenblick doch nicht nach Wien reisen, weil sie ihre Pässe nicht rechtzeitig erhalten oder es sich anders überlegt hatten. Besonderes Pech hatte der einzige angemeldete Teilnehmer aus Moldova: Er saß schon im Zug von Kiew nach Wien, aber ein Armenier, mit dem er das Zugabteil teilte, wurde beim Uranschmuggel ertappt und festgenommen. Daraufhin wurde auch YVON JOSÉ aus Kischinjow verhaftet. Er konnte zwar glaubhaft machen, daß er mit dem Armenier nichts zu tun hatte, wurde aber in ein Militärspital nach Lemberg gebracht, um auf radioaktive Strahlung untersucht zu werden. Verstrahlt war er zwar nicht, aber für eine Weiterreise zur Konferenz nach Wien war es inzwischen zu spät. Mußte früher mit Reisehindernissen aufgrund des Systems stets gerechnet werden, so ist man offenbar jetzt mit solchen Zwischenfällen aufgrund des Chaos konfrontiert, zu dem der Sturz eben dieses Systems geführt hat.
Insgesamt nahmen 215 AktivistInnen und MitarbeiterInnen von Lesben- und Schwulenorganisationen und AIDS-Hilfen teil. Die 87 nicht-osteuropäischen TeilnehmerInnen kamen aus Belgien, Dänemark, Deutschland (die meisten von ihnen aus der früheren DDR), Finnland, Kanada, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz, den USA und dem Vereinigten Königreich und natürlich aus Österreich.
Von den 215 TeilnehmerInnen waren 96 Frauen und 119 Männer, was einen Frauenanteil von 45 % ergibt, den höchsten bei einer ILGA-Konferenz jemals verzeichneten.
Schwerpunkt AIDS
Die 7. Regionaltagung stand unter dem Hauptthema AIDS, beschäftigte sich aber auch mit Fragen lesbisch-schwuler Politik und Emanzipation. Die TeilnehmerInnen konnten zwischen insgesamt 40 Workshops wählen, die in 43 Sitzungen tagten. Außerdem gab es eine Reihe informeller Arbeitskreise (causus meetings). Der Kongreß war darauf angelegt, daß sich die TeilnehmerInnen in den Workshops aktiv einbringen sollten, weshalb langatmige Plenarsitzungen, bei denen die TeilnehmerInnen meist nur zum Zuhören verurteilt sind, gar nicht geplant waren. Es gab ein kurzes Eröffnungsplenum am Donnerstagabend (15. 4.), auf dem die HOSI-Wien-Obleute WALTRAUD RIEGLER und DIETER SCHMUTZER sowie ILGA-Generalsekretär JOHN CLARK Begrüßungsworte an die TeilnehmerInnen richteten und zwei Vertreter der WHO, Henning Mikkelsen aus Kopenhagen und Meurig Horton aus Genf, über ihre Institutionen und deren Programme informierten.
Mikkelsen gab bei dieser Gelegenheit das kurz zuvor ausgewählte Motto für den heurigen Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember bekannt: Time to act – Zeit zum Handeln. Da die nichtstaatlichen Organisationen – Lesben- und Schwulengruppen und AIDS-Hilfen – ohnehin schon seit zehn Jahren handeln, richtet sich diese Devise in erster Linie an die offiziellen Stellen und Regierungen, die damit auch daran erinnert werden sollen, daß sie in ihren Anstrengungen nicht nachlassen dürfen, sondern im Gegenteil diese verstärken müssen.
Gesellschaftliches Rahmenprogramm
Am Freitagnachmittag wurde alle TeilnehmerInnen von der Stadt Wien zu einer zweistündigen Stadtrundfahrt mit anschließendem Empfang in den Räumlichkeiten des Theaters im Künstlerhaus eingeladen. Vor dem Empfang nahmen die Delegierten noch für ein Gruppenfoto Aufstellung auf den Stufen der Karlskirche. Im Künstlerhaus empfingen Bernhard Denscher, Leiter der Magistratsabteilung 7 (Kulturamt), und Eva Kail, Leiterin der MA 57 (Frauenförderung und Koordinierung von Frauenangelegenheiten), die KonferenzteilnehmerInnen und begrüßten sie im Namen Bürgermeister Helmut Zilks, der an diesem Tag nicht in Wien war. Denscher betonte in seiner kurzen Ansprache den Beitrag von Schwulen und Lesben zu Kunst und Kultur und zur gesellschaftlichen Avantgarde. Eva Kail betonte die Bedeutung von Lesben in der Frauenbewegung und ihrer Mitarbeit für viele Frauenprojekte, die ohne diese aktive Rolle von Lesben nicht existieren würden.
Nach den Reden stürzten sich die Delegierten auf ein vorzügliches und exquisites Büfett. Nach dem offiziellen Empfang durch die Stadt Wien hatten die Frauen die Möglichkeit, am Lesbenfest im HOSI-Zentrum teilzunehmen, während die Männer sich im Jugendgästehaus Brigittenau, dem Tagungsort, Aufklärungsvideos zum Thema „safer Sex“ ansehen konnten.
Am Samstagabend wurden alle TeilnehmerInnen zu einem Heurigen in Neustift am Walde verfrachtet. Bei gemütlicher und ausgelassener Stimmung erreichte die Tagung einen weiteren gesellschaftlichen Höhepunkt. RAISA TAIROWA aus St. Petersburg machte mir ihren sentimentalen russischen Liedern den Heurigenmusikern heftig Konkurrenz. Schließlich spielten und sangen sie gemeinsam.
Am Sonntag fand eine Aufbreitung des NAMES-Project-Quilts vor dem Jugendgästehaus statt. Danach dankten die HOSI-Wien-Obleute und John Clark im Schlußplenum allen OrganisatorInnen und TeilnehmerInnen für eine äußerst erfolgreiche Konferenz. Besonderer Dank auch an die unermüdlichen ÜbersetzerInnen, die ständig ins Russische dolmetschten.
Medieninteresse
Die Medienarbeit hat wie beim Gay Filmfestival unter der Arbeitslast gelitten, gab es doch andere Prioritäten: Fahrkarten und Flugtickets mußten besorgt, Visa ermöglicht, Versicherungen abgeschlossen werden, ständig mußten irgendwelche dringenden Sachen mit EMS verschickt werden, weil auf den herkömmlichen Postweg kein Verlaß ist. Bis zum letzten Tag erreichten uns Absagen, Zusagen bzw. die Namen von Ersatzleuten. Gefaxt wurde, was das Zeug hielt.
Immerhin gab es aber zwei Radioberichte (Live-Interview mit John Clark auf Blue Danube Radio am 16. 4., Bericht und Interview mit dem Autor dieser Zeilen im Morgenjournal auf Ö1 am 17. 4.), zwei Berichte in Tageszeitungen (Der Standard, Die Presse vom 16. 4.) sowie im Falter # 16 vom 23. 4., im TATblatt # 7/93 vom 14. 4. und im Impuls grün vom Mai 1993.
Arbeitskreise
Gearbeitet wurde – wie gesagt – vorwiegend in Arbeitsgruppen, wobei diese recht vielfältig waren. Es gab Workshops mit grundlegender Basisinformation zu AIDS, solche mit praktischen Anleitungen, worauf man bei der Herstellung von Aufklärungsmaterialien oder bei der Organisation eines Safer-Sex-Workshops zu achten hat, letzteres Wissen wurde dann gleich bei der Durchführung eines Safer-Sex-Workshops in die Praxis umgesetzt. In anderen Arbeitskreisen ging es um die Zusammenarbeit zwischen staatlichen bzw. städtischen Einrichtungen und privaten Organisationen, um die Vorstellung der Arbeit der WHO und von EuroCASO, dem europäischen Dachverband von AIDS-Service-Organisationen, aber auch um lesbische Sexualität und AIDS. Eine Mitarbeiterin der IMMUNO AG stellte die AIDS-Impfstoff-Forschung dieses Unternehmens vor. Eine Reihe von lesben- und schwulenpolitischen Arbeitskreisen stand ebenfalls zur Auswahl.
Das Allerwichtigste bei solchen Kongressen ist stets der Informationsaustausch, der nicht unbedingt in den Arbeitskreisen erfolgen muß, sondern durchaus in den Kaffeepausen, beim Mittagessen oder abends in einer Bar stattfinden kann. Und so stürzte eine Flut von Neuigkeiten und Informationen auf die KonferenzteilnehmerInnen ein, die die KonferenzorganisatorInnen in einen ausführlichen Konferenzbericht kanalisieren versuchten. TeilnehmerInnen wurden gebeten, Beiträge über ihre Organisationen und Länder schon vor der Tagung zu verfassen und nach Wien mitzubringen. Dies wurde auch getan, und so enthält der Konferenzbericht Beiträge über die Situation von Lesben und Schwulen sowie in bezug auf AIDS in allen 15 in Wien vertretenen osteuropäischen Ländern. Der Bericht über die Tagung enthält darüber hinaus die Protokolle aus den Arbeitskreisen, eine Adreßliste über alle uns bekannten Lesben- und Schwulengruppe sowie AIDS-Initiativen in Osteuropa. Diese Adreßliste ist momentan sicherlich die aktuellste und umfassendste Liste dieser Art.
Konferenzbericht
Der 77seitige ordentlich gesetzte und layoutierte Bericht wurde von STEVE HUTTON, John Clark, FELIX GÖRNER und dem Autor dieser Zeilen in Rekordzeit fertiggestellt. Bereits eineinhalb Monate nach der Konferenz war er gedruckt und versandfertig. Diesbezüglich hat die HOSI Wien ebenfalls neue Maßstäbe gesetzt. Der WHO hat der Bericht so gut gefallen, daß sie ihn in ihre offizielle Bibliographie aufgenommen hat – eine weitere große Ehre für die HOSI Wien! Aber nicht nur InteressentInnen, die durch diese WHO-Publikationsliste auf unseren Bericht aufmerksam werden, können ihn bei der HOSI Wien bestellen, sondern auch alle anderen Interessierten.
Im Anhang des Konferenzberichts findet sich übrigens das sechsseitige Dokument der Riga-Initiative abgedruckt. Sie ist das Ergebnis eines zweitägigen Gipfels der europäischen Gesundheits- und FinanzministerInnen, den die WHO am 1. und 2. April 1993 in die lettische Hauptstadt einberufen hat. Er stand unter dem Motto In die Gesundheit investieren. Die Riga-Initiative sieht eine konzertierte gemeinsame Anstrengung aller WHO-Mitgliedsstaaten zur HIV/AIDS-Prävention in den Ländern Mittel- und Osteuropas für die Jahre 1993–96 vor. Dazu, so hat das Global Programme on AIDS der WHO im Rahmen einer Studie errechnet, werden 550 Millionen Dollar benötigt. Ab 1997 sollten dann alle Staaten in der Lage sein, die nötigen AIDS-Präventionsprogramme in Eigenfinanzierung weiterzuführen. Ob sich diese ambitiöse Initiative verwirklichen läßt, scheint angesichts der bekannten ökonomischen und ökologischen Altlasten und des ohnehin zum Teil katastrophalen Allgemeinzustands des Gesundheitswesens höchst fraglich. Die Versuchung, auf AIDS-Prävention zu verzichten, und die vorhandenen Ressourcen für andere Prioritäten einzusetzen, ist für Osteuropa sicherlich sehr groß. Daß die WHO mit diesem Plan zweifellos Recht hat, beweist indes das Beispiel Asiens, wo 1987 noch kaum AIDS-Fälle zu verzeichnen waren, fünf Jahre später aber die Zahl der HIV-Infizierten auf 1,5 Millionen geschätzt wird.
Zu diesem Treffen in Riga hat die WHO VertreterInnen nichtstaatlicher Organisationen, und zwar der europäischen Dachverbände der diversen Interessengruppen eingeladen, etwa der ILGA (sie war vertreten durch die frühere Generalsekretärin LISA POWER aus London) und von EuroCASO.
Informationsaustausch
Sowohl die Lage der Lesben und Schwulen als auch die AIDS-Situation ist in den einzelnen Ländern unterschiedlich, wobei sie meist heute noch von den Um- und Zuständen von vor 1989 geprägt ist. So hat sich in Tschechien, Ungarn und Polen eine aktive Bewegung und eine kommerzielle Szene entwickelt, die durchaus mit Österreich zu vergleichen ist. Zeitschriften und Magazine erscheinen, Lokale haben ihre Pforten geöffnet. Politisch beginnt die harte Knochenarbeit um die sozialrechtliche Gleichstellung, nachdem (außer in Ungarn) alle strafrechtlichen Diskriminierungen beseitigt worden sind. Die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen im AIDS-Bereich funktioniert einigermaßen, wobei sie in Polen nicht einheitlich ist. Während in Danzig ein Musterbeispiel für die Zusammenarbeit zwischen offiziellen Stellen, Gesundheitsbehörden und der Bewegung entstanden ist, existiert in anderen Städten und Regionen Polens nichts Vergleichbares.
In anderen Ländern, speziell in den GUS-Staaten, hat sich das Tabu Homosexualität trotz AIDS-Gefahr nur unwesentlich gemildert. So sind dann meist internationale Anlässe, wie der Welt-AIDS-Tag oder der International Candlelight Memorial and Mobilization Day im Mai Aufhänger für Medienberichte. So führte letzterer vergangenes Jahr dazu, daß die Presse von Belarus (vormals Weißrußland) zum erstenmal über Homosexualität berichtete und auf die Tatsache aufmerksam machte, daß § 119 des belarusischen Strafgesetzes homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern kriminalisiert. Aber auch in Minsk haben sich inzwischen zwei AIDS-Organisationen gebildet, in denen Schwule mitarbeiten. In Moldova, einer anderen Nachfolgerepublik der Sowjetunion, ist Homosexualität ebenfalls verboten, es besteht keinerlei AIDS-Präventionsarbeit. Einige Schwule haben indes eine kleine Gruppe gegründet, die erste Gespräche mit Politikern aufgenommen hat.
In Rußland ist die Lage unterschiedlich. In Zentren wie Moskau und St. Petersburg haben sich viele Gruppen gebildet, eine Reihe von einschlägigen Zeitschriften und Zeitungen wird herausgegeben. Die Zusammenarbeit mit den Behörden ist aber sehr schlecht. Anders ist die Lage in den anderen Landesteilen. Typisches Beispiel dafür ist ALEKSANDR aus Kazan, der nach seiner Rückkehr aus Wien erfahren mußte, daß die lokale Presse über seine Teilnahme an der ILGA-Konferenz berichtet hatte, woraufhin er seine Arbeitsstelle verlor!
In Rumänien besteht das Totalverbot lesbischer und schwuler Handlungen (§ 200 StGB) nach wie vor weiter (siehe Aus aller Welt in diesem Heft, S. 60 [dieser Text zu den Entwicklungen in Rumänien findet sich auch nachstehend]), die AIDS-Arbeit privater, meist von westlichen Organisationen finanziell unterstützter Initiativen wird von den Behörden ignoriert. Es besteht kaum Zusammenarbeit. Für Rumänien ist das AIDS-Problem ein rein medizinisches bzw. spitalsmäßiges, denn bekanntlich wurden ja die meisten Betroffenen, nämlich Kinder, durch medizinische Behandlung mit dem HIV infiziert. Schwule gelten nicht als „Risikogruppe“. Die ausländische Beteiligung in den AIDS- sowie in den Lesben- und Schwulengruppen hat zu einer Spaltung der jungen und kleinen Bewegung geführt. Die erste Gruppe, Total Relations, möchte einen diskreten, den rumänischen Verhältnissen Rechnung tragenden Kurs einschlagen. Das führte zur Gründung einer neuen Gruppe, Grupul 200 (benannt nach § 200 StGB), in der in Rumänien tätige amerikanische StaatsbürgerInnen, wie Scott Long (vgl. LN 2/1993, S. 40, und Bericht in diesem Heft) mitarbeiten. Sie haben Gefängnisse besucht und mit inhaftierten Homosexuellen gesprochen, sie haben Fälle aufgegriffen, an die ILGA und an amnesty international weitergeleitet und sind damit in die Medien und Öffentlichkeit gegangen.
Ohne Zweifel leisten beide Gruppen wichtige Arbeit, wodurch die Spaltung umso bedauerlicher ist. Im April 1993 ist die erste rumänische Lesben- und Schwulenzeitschrift erschienen: Gay 45, wobei sich 45 auf den geographischen Breitegrad bezieht, auf dem Rumänien liegt. Die Zeitung ist professionell gemacht. Hoffentlich wird sie weiterhin regelmäßig erscheinen.
Unterschiedlich ist auch die Lage in den baltischen Staaten: Während Estland in allen Bereichen mit Volldampf auf der Aufholspur Richtung Skandinavien unterwegs ist (inzwischen hat sich in Tallinn sogar ein schwuler Lederklub gebildet), ist man in Lettland hauptsächlich damit beschäftigt, der Russifizierung Einhalt zu gebieten und den eigenständigen Fortbestand des lettischen Volkes zu gewährleisten. Mit solchen demographischen Fragen ist aber untrennbar eine Gebärideologie verbunden, die auf Lesben und Schwule nur negative Auswirkungen haben kann. In Litauen hat man das bis 11. Juni 1993 bestehende Totalverbot homosexueller Handlungen [vgl. Bericht auf S. 59 f in diesem Heft] stets als Vorwand genützt, die Lesben- und Schwulengruppen nicht als Vereine zuzulassen. Ja, ihren MitarbeiterInnen wurde sogar gedroht, man würde sie wegen Beihilfe zu kriminellen Delikten strafrechtlich verfolgen, wenn sie ihre Aktivitäten nicht einstellten. Eine Schwulengruppe hat schließlich im staatlichen AIDS-Präventionszentrum in Wilna „Unterschlupf“ gefunden. Dieses finanziert die Herausgabe der ersten litauischen Lesben- und Schwulenzeitschrift Naglis. Diese Heuchelei erinnert stark an Österreich, was nicht weiter verwundert, denn Litauen ist ebenfalls ein vorwiegend katholisches Land.
Der Krieg in Ex-Jugoslawien hat ebenfalls zu ideologisch begründetem Gebär-Wahn geführt. Heutzutage muß jede patriotische Kroatin mindestens vier bis fünf Kinder zur Welt bringen, damit nicht womöglich die Serben den demographischen Krieg gewinnen. Und Lesben und Schwule haben als demographische Blindgänger in einer solchen Ideologie keinen Platz. Entsprechend verschärft hat sich das allgemeine Klima. Nicht anders in Belgrad. War Serbien nie ein Hort der Toleranz gegenüber Lesben und Schwulen, so berichteten Aktivistinnen aus Belgrad, daß die Lage noch nie so schlimm war wie jetzt. Bezeichnend, daß die jeweils gegnerischen Politiker sowohl in den Agramer Kabaretts als auch in den Belgrader Medien als Schwuchteln und Tunten dargestellt werden.
Rumänien muss warten
(Bericht im selben Heft in der Sektion „Aus aller Welt“)
Aufgeschoben wurde der Antrag Rumäniens auf Mitgliedschaft im Europarat – nicht zuletzt auch wegen des Totalverbots homosexueller Handlungen. Im Gegensatz zu den Europarats-Berichterstattern für Litauen [vgl. Bericht ab S. 59 f] haben zwei der drei Rapporteure für Rumänien diese Menschenrechtsverletzung in ihren Berichten sehr prominent kritisiert, und zwar der österreichische Abgeordnete Friedrich König (ÖVP) sowie der finnische Abgeordnete Gunnar Jansson. Wie die LN 2/1993, S. 40, berichteten, hatte die HOSI Wien in dieser Sache Kontakt zu König vor dessen Erkundungsmission nach Rumänien im März 1993 aufgenommen und ihn gebeten, das Totalverbot homosexueller Handlungen (§ 200 – er gilt auch für Lesben) für seinen Bericht aufzugreifen. Wir haben König auch Berichte von SCOTT LONG über Inhaftierte zukommen lassen. In einem Telefongespräch nach seiner Rückkehr aus Rumänien berichtete König der HOSI Wien, daß er diese Frage in Gesprächen sowohl mit dem Justizminister als auch mit Vertretern der hohen Gerichtshöfe erörtert und in seinem mündlichen Bericht in Straßburg erwähnt habe. Die Frage wurde auch auf die Checkliste für eine weitere Europarats-Mission gesetzt, die im April 1993 der Finne Jansson unternommen hat.
König und Jansson haben das Totalverbot in ihren schriftlichen Berichten an den Europarat erwähnt. Dieser Umstand hat große Medienaufmerksamkeit in Rumänien hervorgerufen. Inzwischen hat Scott Long, ein Aktivist aus Amerika, der zur Zeit beruflich in Rumänien tätig ist, seine Recherchen (vgl. LN 2/1993, S. 40) weitergeführt und weitere sechs Fälle wegen § 200 verhafteter Schwuler, diesmal aus Hermannstadt (Sibiu), dokumentiert. Weiters hat amnesty international zwei der Fälle, über die Scott Long früher berichtet hatte, als Gewissensgefangene adoptiert. Die schwedische Sektion von AI hat bereits eine Protestkampagne in die Wege geleitet. Die beiden wurden schließlich bei ihrem Prozeß im Juni 1993 vom Gericht zwar nicht freigesprochen, aber freigelassen.
Die HOSI Wien hat König für seine imponierenden Anstrengungen in dieser Angelegenheit in einem Brief gedankt und darin der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß der Europarat den Berichten der Rapporteure auch Rechnung tragen werde.