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Kommentar in der Online-Zeitschrift Glocalist Review NR. 6/2003

Macht korrumpiert oder grenzgenial?

Veröffentlicht am 3. November 2003
In Oberösterreich vereinbarten 2003 ÖVP und Grüne ein Regierungsübereinkommen. Es war dies die erste schwarz-grüne Zusammenarbeit auf Landesebene. Dass schlug insofern hohe Wellen, als die ÖVP damals im Bund mit der Haider-FPÖ koalierte. In der digitalen Wochenzeitschrift Glocalist Review Nr. 6/2003 kommentierten NGO-Vertreter, darunter ich, die schwarz-grüne Zusammenarbeit.

Auf den ersten Blick schockiert es, daß die Grünen mit dieser ÖVP eine Regierungskoalition bilden. Bei aller Berücksichtigung des Umstands, daß es hier um die Landesebene geht, kann man ja nicht völlig ausblenden, daß es dieselbe ÖVP ist, die schuld daran ist, daß die FPÖ in die Bundesregierung kam – mit all den katastrophalen Folgen für das Land.

Die ÖVP hat aus reiner Machtgier die FPÖ ins Regierungsboot geholt. Für mich trägt daher sie die Hauptverantwortung für all das, was seither passiert ist: für die Säuberungswellen im öffentlichen Bereich, für die dramatische Entwicklung weg vom Rechtsstaat (Stichworte: Spitzelaffäre, Finanzminister Grasser, Koloini-Affäre etc.), für die unglaubliche Freunderlwirtschaft, für die Debakel bei den Privatisierungen, für das Fiasko bei wichtigen Gesetzesprojekten, etwa im Sozial- und Bildungsbereich, für das Regierungschaos – und natürlich für das neue Asylgesetz und die faschistoide Weigerung, homosexuelle NS-Opfer endlich im Opferfürsorgesetz als solche zu rehabilitieren.

Die ÖVP ist in meinen Augen viel bedenklicher als die FPÖ. Es gehört schon viel Verdrängung und Schizophrenie dazu, wenn die Grünen die oö VP hier von der Bundes-VP abspalten und nicht sehen wollen, daß die ÖVP durch ihre Verbindung mit der FPÖ in höchstem Grad kompromittiert ist und einige Jahre Quarantäne verordnet bekommen müßte, um in Ruhe von der undemokratischen Pest zu genesen, mit der sie offenbar bereits latent infiziert war und die nicht zuletzt durch die Re-Infektion aufgrund der Mesalliance mit der FPÖ virulent geworden ist. Daß nach all dem, was seit 2000 vorgefallen ist, die Grünen bei nächstbester Gelegenheit einfach zur Tagesordnung übergehen, der ÖVP eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellen und deren ohnehin schon totalitär anmutende Machtfülle in Österreich weiter absichern helfen, ist schwer zu verkraften und geeignet, jene in völlige Verzweiflung und Apathie zu stürzen, die ihre letzte politische Hoffnung in die Grünen gesetzt haben, die sich aber nun als gewöhnliche Partei entpuppt haben, die bereit ist, elementare politische Grundsätze der vagen Aussicht darauf zu opfern, einige wenige Punkte aus ihrem Programm umsetzen zu können.

Sollte die schwarz-grüne Zusammenarbeit in OÖ aber ein grenzgenialer Schachzug der Grünen sein (woran ich auf den zweiten Blick unbedingt glauben will), um potentiellen WählerInnen aus dem bürgerlichen Lager die Angst zu nehmen, bei den nächsten NR-Wahlen grün zu wählen, weil die Grünen damit ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis stellen und die schwarz-grüne Option auch für den Bund aufrechterhalten, dann muß man den Grünen für diesen heroischen Akt politischer Selbstverleugnung und Prostitution in der Tat Dank und Anerkennung zollen! Kein Zweifel: Dieses Mittel wird durch den Zweck, bei den nächsten NR-Wahlen eine rot-grüne Mehrheit zustande zu bringen, geheiligt. Daß es dann zwangsläufig zu einer rot-grünen Regierung kommt, liegt auf der Hand, denn daß auf Bundesebene die Vorstellungen von ÖVP und Grünen nicht kompatibel sind, haben ja die gescheiterten Koalitionsverhandlungen letzten Februar gezeigt. Und daß sich ÖVP oder Grüne um 180 Grad drehen, ist ja nicht anzunehmen. Wenn dieses Kalkül also aufgehen sollte, dann kann man den Grünen ihren jetzigen Sündenfall in OÖ verzeihen. Aber nur dann!

Bleibt zu hoffen, daß es die ÖVP nicht darauf anlegt, Schwarz-Grün in OÖ spektakulär scheitern zu lassen, um die Grünen als genauso regierungsunfähig wie die FPÖ vorzuführen.

 

Nachträgliche Anmerkungen:

Bekanntlich dauerte die schwarz-grüne Zusammenarbeit in OÖ zwölf Jahre, bis 2015 die Volkspartei die Grünen durch die FPÖ ersetzte. Meine Hoffnung, dieses Pionierprojekt könnte den Weg zu einer rot-grünen Mehrheit im Bund ebnen, erfüllte sich leider nicht. Die konservative Mehrheit im Nationalrat ist bis heute ungebrochen. Als Nicht-Oberösterreicher will ich das Wirken der schwarz-grünen Zusammenarbeit nicht beurteilen, besonders spektakuläre Erfolge der Grünen haben sich aber nicht ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Der Standard zog jedenfalls am 5. Oktober 2019 ein positives Resümee, entscheidend seien dafür die handelnden Personen gewesen: Machtmensch Pühringer, der damalige ÖVP-Landeshauptmann, „konnte auf persönlicher Ebene gut mit dem Konservativ-Grünen Anschober. Die kritische Begleitmusik aus den grünen Reihen verstummte freilich nie ganz. Viele sahen über die Jahre die grüne Handschrift verblassen und Anschober mehr und mehr in Demutshaltung vor der ÖVP.“ – Tja, da tun sich wohl Parallelen zur Gegenwart (2020) auf.

Eine längere Fassung dieses Kommentars erschien in den LN 1/2004, S. 13 f.