Moria: Absoluter Kadavergehorsam der Grünen
Die Grünen haben bekanntlich vergangenen September im Nationalrat ohne Not gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria gestimmt. Das ist eine politische Bankrotterklärung der Grünen auf ganzer Linie, nicht nur in dieser konkreten Frage. Denn es zeigt auch, dass die Grünen sich der ÖVP völlig unterworfen haben und sich nicht einmal in einer solchen Frage von der ÖVP gesichtswahrende Zugeständnisse ausbedingen können – wie etwa freie Gewissensentscheidung. Die ÖVP hat offenbar totalen Kadavergehorsam der Grünen eingefordert – und bekommen! Das ist eine absolute Schande – daran gibt es nichts zu beschönigen.
Fadenscheinige Argumente
Die von den Grünen strapazierten Argumente greifen nicht, müssen ins Leere gehen. Ja, okay, wir wissen alle, dass man als Juniorpartner in einer Koalition Kompromisse schließen muss. Warum aber immer nur der Juniorpartner? Mir ist jedenfalls kein einziger Kompromiss aufgefallen, den die Grünen der ÖVP im ersten Jahr ihrer Regierungszusammenarbeit abgerungen hätten – und bei dem die ÖVP total über ihren Schatten gesprungen wäre.
Und ja, die Zustimmung der Grünen hätte am Ergebnis nichts geändert, die Anträge von SPÖ und NEOS hätten sowieso keine Mehrheit gefunden, da die FPÖ ebenfalls dagegen war. Die ÖVP hätte ihr Ziel ohnehin erreicht, also eh schon wurscht! Ja, geschenkt! Aber eben darum!
Ziemlich verarscht fühlt man sich indes durch das Argument der Grünen, die ÖVP habe angedroht, dem Antrag der FPÖ zuzustimmen, keine Flüchtlinge aus Moria aufzunehmen, sollten die Grünen den SPÖ- und NEOS-Anträgen zustimmen. Ja, und – so what? Jetzt haben wir dasselbe Ergebnis – keine Aufnahme von Flüchtlingen – mit Zustimmung der Grünen! Gratuliere zu dieser genialen taktischen Meisterleistung, ich bin schwer beeindruckt!
Und dennoch bzw. gerade wegen dieser lächerlichen Ausreden und Argumente bleiben die Fragen: Warum lassen sich die Grünen hier so vorführen und dermaßen demütigen? Warum gestattet die ÖVP den Grünen nicht, Haltung zu zeigen und ihr Gesicht und ihre Selbstachtung zu wahren? Man hätte die Abstimmung ja zur freien Gewissensentscheidung erklären und den Koalitionszwang aufheben können – wäre wohl nichts entsetzlich Dramatisches in einer tatsächlich partnerschaftlichen Regierung auf Augenhöhe. Der ÖVP wäre kein Stein aus der Krone gefallen, sie hätte ihren Willen ja ohnehin durchgesetzt. Die Antwort auf diese Fragen gibt Peter Pilz, der in einem Kommentar auf zackzack.at am 25. Dezember 2020 so treffend schreibt: Kurz und seine Partei wollen die Grünen ruinieren. Bei einer Partei, deren Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit ihr größtes Kapital sind, geht das über die Zerstörung genau dieses Kapitals. Ich denke, das ist Kurz & Co bereits gelungen. Die Grünen sind total unglaubwürdig geworden, ihre moralischen Ansprüche sind nach einem Jahr in der Regierung mit der ÖVP nur mehr Schall und Rauch im politischen Tagesgeschäft.
Zudem ist die politische Situation so verfahren und aussichtslos auch wieder nicht, wie die Grünen schicksalsergeben tun. Ich finde, die Grünen sitzen sogar am längeren Hebel. Denn in Wahrheit haben die Türkisen ja immer noch keine andere Option. Fliegender Wechsel zum versprengten FPÖ-Haufen? Man traut der ÖVP ja vieles zu, aber das? Und wenn schon, dann müssen wir eben auch da noch durch – wir haben schon drei schwarz-blaue Regierungen überstanden. Und die letzte war ja aufgrund des blauen Parteipersonals, das ja seither nicht besser geworden ist (im Gegenteil!), ohnehin nur von kurzer Dauer.
Jedenfalls wird niemand den Grünen für ihre Märtyrer-Rolle, die FPÖ von der Regierung fernzuhalten, auf Dauer danken – schon gar nicht, wenn sie permanent ihre eigenen Werte auf dem Altar der Koalition opfert, in der die ÖVP dann erst recht vorwiegend FPÖ-Politik umsetzt.
Und würde sich die ÖVP rächen und die Gefolgschaftsverweigerung der Grünen in der „Moria“-Frage als Freibrief für gemeinsame Beschlüsse mit der FPÖ ansehen, könnten die Grünen immer noch im Fall des (unzumutbaren) Falles entscheiden, ob sie sich das dann gefallen lassen oder aus der Koalition aussteigen. Dann müssen halt die Karten bei Neuwahlen neu gemischt werden, wobei ich fürchte, dass das Ergebnis angesichts der Dummheit der Mehrheit der ÖsterreicherInnen kaum anders ausfallen wird. Die türkisen Bäume werden aber sicher nicht in die Höhe der absoluten Mehrheit wachsen – soviel können Österreichs Milliardäre der ÖVP gar nicht spenden! Möglicherweise sind dann die NEOS stark genug, um als vierte Partei in einer Koalition mit der ÖVP ruiniert zu werden. Allerdings ist zu bezweifeln, ob die NEOS ein solches Himmelfahrtskommando – vor allem angesichts des grünen Desasters – überhaupt antreten wollen.
Sündenfall
Besagtes Abstimmungsverhalten war ein persönlicher Sündenfall jeder und jedes einzelnen grünen Abgeordneten. Es gibt keine Rechtfertigung dafür. Sie hätten sich in dieser Frage grundlegender Humanität und menschlichen Anstands über die Koalitionsräson hinwegsetzen – koste es, was es wolle – und der ÖVP deutlich signalisieren müssen, hier ist eine Grenze überschritten, so könnt ihr mit uns nicht umspringen. Es gibt ein historisches Beispiel dafür, das dies möglich ist – siehe später.
Auf der individuellen Ebene müssen sich die grünen Abgeordneten die Frage stellen, ob es diese moralische Selbstaufgabe wert war – und die Sache wohl mit ihrem Gewissen ausmachen. Auf der politischen Ebene wird sich die herbe Enttäuschung bei vielen SympathisantInnen und WählerInnen sicherlich negativ für die grüne Partei auswirken. Denn dieses (Abstimmungs-)Verhalten zählt natürlich viel schlimmer bei den Grünen, da sie selber mit hohen Ansprüchen an ihre politische Tätigkeit angetreten sind und man folglich auch hohe Ansprüche an sie stellt. Und dann entpuppen sie sich als genau dieselben dumpfen Abstimmungsviecher wie die letzten türkisen HinterbänklerInnen! Das ist bitter und traurig. Diese Schmach wird für immer auf ihrer grünen Weste haften bleiben. Da haben SPÖ-Abgeordnete in jüngster Vergangenheit mehr Mut und Anstand bewiesen, wie folgendes Beispiel zeigt – und woraus mein völliges Unverständnis für die grüne Haltung resultiert.
Historisches Beispiel
Dabei handelte es sich sogar um eine homosexuelle Angelegenheit, nämlich um die Novelle des Opferfürsorgegesetzes (OFG), die am 1. Juni 1995 zur Abstimmung auf der Tagesordnung des Nationalrats stand. Damals regierten SPÖ und ÖVP in großer Koalition. Die Grünen waren in Opposition und stellten – wie auch das Liberale Forum (LiF) – den Antrag, die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus ins OFG aufzunehmen. Die ÖVP war strikt dagegen und erwartete von den SPÖ-Abgeordneten, den Antrag gegen ihr Gewissen und antifaschistisches Grundverständnis ebenfalls abzulehnen. Die SPÖ-Abgeordnete befanden sich im selben moralischen Dilemma wie die Grünen in der Moria-Frage, aber offenbar waren hier die Grenzen der Selbstverleugnung für die SPÖ-Abgeordneten erreicht. Und so kam es zum Koalitionseklat: 55 der 60 anwesenden (von insgesamt 65) SPÖ-Abgeordneten probten den Aufstand und verweigerten die Koalitionstreue. Sie stimmten für den grünen Antrag, der allerdings keine Mehrheit fand, denn auch damals verfügten ÖVP und FPÖ über eine rechte Mehrheit im Parlament. Diese Abstimmung war trotzdem eine der ganz seltenen Sternstunden des österreichischen Parlamentarismus, bei der sich die Abgeordneten – zumindest jene der SPÖ – als tatsächlich freie MandatarInnen erwiesen, die sich nur ihrem Gewissen verpflichtet fühlten. Und die Koalition zerbrach übrigens deswegen nicht (ausführlicher Bericht hier). Ich habe dieses Beispiel auch in meinem Blog-Beitrag vom 21. November 2019 gebracht – damals waren Grüne und ÖVP mitten in den Koalitionsverhandlungen. Ich wollte damit auf die Fallstricke von koalitionsfreiem Raum und Klubzwang aufmerksam machen.
Herbe Enttäuschung
Besonders enttäuscht bin ich natürlich von Abgeordneten wie Ewa Ernst-Dziedzic und Faika El-Nagashi. Ich kenne und schätze sie nicht nur aus LSBT-Zusammenhängen, sondern finde auch ihre bisherige Arbeit als Nationalratsabgeordnete großartig. Ich halte sie weiterhin für absolut integer und habe ja fast Mitleid – aber trotzdem: Ich kann ihr Verhalten nicht nachvollziehen, es ist mir unbegreiflich. Es war ein unverzeihlicher Fehler, bei dieser Gelegenheit nicht aufzustehen, und daher eine verpasste Chance, in mehrfacher Hinsicht ein Zeichen zu setzen. So schade!
Es hat mich allerdings auch ziemlich befremdet, dass sich Faika auf einem Poster der Plattform für eine menschliche Asylpolitik mit geballter Faust in kämpferische Pose wirft (siehe Foto). Das ist nach diesem moralischen Offenbarungseid dann doch eher peinlich und zum Fremdschämen. Und man muss um ihre Gesundheit fürchten: Achtung, Schizophrenie-Gefahr! Apropos Gesundheit: Ich frage mich ja besorgt, wie Ewa und Faika es auf die Dauer aushalten, sich von türkisen AbgeordnetenkollegInnen, deren Politik sie eigentlich aus tiefstem Herzen verachten, ständig dermaßen demütigen zu lassen. Was macht das eigentlich mit einer? Kann man das überhaupt seelisch unbeschadet überstehen?
Faikas Aussage – obwohl sprachlich fehlerhaft (es muss natürlich heißen: Das entscheidende Moment kann nur aus der Bevölkerung kommen) und einigermaßen holprig formuliert (Das Moment kommt aus der Bevölkerung?) – trifft inhaltlich sicherlich zu. Das war damals, 1995, bei der erwähnten Novelle des Opferfürsorgegesetzes genauso. Es hat noch zehn Jahre Druck bedurft, der vor allem von der HOSI Wien ausgeübt wurde, bis die ÖVP einlenkte, wobei die HOSI Wien im Endspurt im ersten Halbjahr 2005 ziemlich harte Bandagen anlegen musste. Siehe dazu meinen Beitrag „Rehabilitierung & Entschädigung“ in der Abteilung „Nationalsozialismus“ auf diesem Website. Aber dennoch: Man darf wohl erwarten, dass sich die Verbündeten in den Parteien nicht dermaßen ängstlich wegducken!
Die Frustration über die Grünen ist bei vielen jetzt groß. Bei mir nicht, ich hatte keine besonderen Erwartungen, nachdem ich das Regierungsprogramm von Türkis-Grün gelesen hatte – vgl. dazu meinen Blog-Beitrag vom 3. Jänner 2020. Schon damals habe ich von den türkisen Demütigungen gegenüber den Grünen geschrieben: Allein die Art und Weise, wie Kurz am Tag der Präsentation des Regierungsprogramms genüsslich das Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren an den Schulen als wichtiges Thema hervorhob, bei dem die ÖVP von ihrer Linie keinen Millimeter abgewichen ist, hat ja bereits einen ersten Vorgeschmack geliefert, auf welche subtile und weniger subtile Art er die Grünen in Zukunft vorführen und demütigen wird.
Ich habe leider recht behalten. Es folgte eine Demütigung nach der anderen. Es freut mich indes diebisch, dass Kanzler Kurz mit dem Projekt Kopftuchverbot jetzt total Schiffbruch erlitten hat, da der Verfassungsgerichtshof das von Türkis-Blau beschlossene Kopftuchverbot in der Volksschule als verfassungswidrig gekippt hat. Damit fällt auch das türkis-grüne Folgeprojekt aus dem gemeinsamen Regierungsprogramm flach: die Ausweitung des bestehenden Kopftuchverbots auf Schülerinnen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (Erreichen der Religionsmündigkeit) [S. 207].
Weiteres Beispiel für türkise Demütigungen der Grünen:
Schweres Foul von Kurz gegen Alma Zadić noch vor der Angelobung der Regierung