AIDS-Notstand in Wien
Am 11. März 1991 brach die stationäre Versorgung von AIDS-Patienten in den Wiener Spitälern völlig zusammen. Eine der beiden AIDS-Abteilungen sollte geschlossen werden, weil ausreichendes Pflegepersonal nicht mehr zur Verfügung stand. Am Freitag zuvor hatte eine Kommission der zuständigen Stellen den Pavillon Annenheim im Pulmologischen Zentrum Baumgartner Höhe besucht, die Lage als absolut katastrophal befundet und die Schließung nach dem Wochenende angeordnet.
Dabei war von den dreißig Betten ohnehin nur mehr ein gutes Dutzend belegt. Zur gleichen Zeit waren an der anderen AIDS-Station, der 1. Hautklinik im AKH, gerade noch vier von fünfzehn Betten nicht von der Sperre betroffen. Den rund 100 gemeldeten AIDS-PatientInnen sowie rund 200 bisher ambulant versorgten HIV-PatientInnen standen also in Wien insgesamt 17 bis 18 Betten (von 45 vorgesehenen) zur Verfügung. Und davon sollten jetzt auch noch 13 bis 14, also ganz Annenheim, gesperrt werden.
Eine totale Sperre hatte das Pflegepersonal allerdings nicht herbeiführen wollen. Verzweiflung machte sich daher am 11. März nicht nur unter den PatientInnen, die auf Annenheim lagen und verlegt hätten werden müssen, und unter den ambulanten PatientInnen, unter denen sich die angeordnete Sperre des Pavillons wie ein Lauffeuer herumsprach, breit, sondern auch unter dem Pflege- und ärztlichen Personal. Und einmal mehr bewahrheitete sich der Spruch, daß in Österreich eine Lage, die hoffnungslos ist, nicht ernst sein muß. Gesundheitsstadtrat Sepp Rieder himself pilgerte auf die Baumgartner Höhe und konnte vom Pflegepersonal überredet werden, von einer Totalsperre Abstand zu nehmen – das Personal erklärte sich bereit, bis Mitte April einen Notbetrieb mit zehn Betten weiterzuführen.
Wie konnte es soweit kommen? Seit Monaten klagte das Pflegepersonal über die unerträglichen Arbeitsbedingungen. Die Station litt ständig an pflegepersoneller Unterbesetzung, wobei Primar Vetter seine Versprechungen, die Zahl der PatientInnen, vor allem der Nicht-AIDS-PatientInnen, dem Personalstand anzupassen, des öfteren brach. Die Betten in den Überwachungszimmern zählten als Normalbetten, obwohl die darin betreuten PatientInnen intensiver Betreuung und Beobachtung bedurften. Das Pflegepersonal mußte auch bei den zahlreichen ärztlichen Untersuchungen, die an der Station selbst durchgeführt werden, assistieren, wodurch die Pflege der anderen PatientInnen zu kurz kam. Und gerade über die medizinische Notwendigkeit vieler dieser Untersuchungen gab es unterschiedliche Ansichten. Unter Oberärztin Armbruster galt Annenheim als ausgesprochene Medizin-Mühle, durch die die PatientInnen gedreht wurden. Das Pflegepersonal (und wahrscheinlich auch die PatientInnen) wurde nicht über die Versuche mit Medikamenten informiert und wußte nicht, wie es plötzliche Fieberschübe bei PatientInnen erklären sollte.
Auf dem Dienstweg schickte das Pflegepersonal mehrere Eingaben auf die Reise an die zuständige Abteilung, wo diese angeblich nie ankamen. Da sich monatelang nichts änderte, sondern sich im Gegenteil die Lage immer mehr zuspitzte, quittierten etliche MitarbeiterInnen den Dienst auf Annenheim. Schließlich suchte auch noch ein Großteil der verbliebenen Mann- und Frauschaft gleichzeitig um Versetzung an.
Unter den gegebenen Umständen war es auch nicht möglich, neues Personal für die Station anzuwerben. Zu den wesentlichen Forderungen des Pflegepersonals zählen die Umwidmung von Annenheim in eine „reine“ AIDS-Station (daher keine Aufnahme von „normalen“ LungenpatientInnen) – vorzugsweise durch Schaffung eines eigenständigen Primariats –, die Umwidmung der Überwachungs- in Intensivzimmer, was eine Aufstockung des Personals allein für diese Betten sowie auch eine bessere Abgeltung der Dienste („Intensivzulage“) bedeuten würde, und die Erhöhung des Personalstands in einem Ausmaß, das die Betreuung der PatientInnen wieder auf eine Art und Weise ermöglichen würde, die den berufsethischen Ansprüchen genügt.
Es bleibt zu hoffen, daß aufgrund der Zugeständnisse der Stadt Wien das jetzige Personal bleibt und sich zusätzliches meldet bzw. abgewandertes zurückkehrt, damit der Fortbestand der Station gesichert ist. Denn demnächst steht eine weitere Versorgungsverschlechterung ins Haus: Wenn die 1. Hautklinik vom alten ins neue AKH übersiedeln wird, wird die dortige AIDS-Station – so war es immer geplant – aufgelöst. Auch das ist bezeichnend: Im modernsten Krankenhaus Österreichs wird kein Platz für AIDS sein. Dies zeigt den Stellenwert, den diese Krankheit und die an ihr Erkrankten haben – egal, wie man zu neuen AKH-Monster und der Frage, ob man dort überhaupt behandelt werden will, stehen mag!
Es gibt in Wien auch keine Alternative zu AIDS-Spezialabteilungen. AIDS-Kranke können nicht in „normalen“ Abteilungen, sei es interne, Haut-, Lungen- oder sonstige Abteilungen aufgenommen werden, weil erstens die ÄrztInnen dort in der Regel nicht die Ausbildung und Erfahrung haben, um überhaupt richtig diagnostizieren, geschweige denn richtig therapieren zu können, und weil zweitens dort das Pflegepersonal nicht entsprechend geschult ist und den AIDS-Kranken im allgemeinen mit Reserviertheit und Ablehnung gegenübertritt. HIV-Positive, die an nichtspezialisierten Abteilungen behandelt wurden, können viele Beispiele erzählen.
Über den politischen Skandal, den dieser Kollaps darstellt, brauche ich mich hier nicht mehr auslassen. Darüber haben GUDRUN HAUER in ihrem Leidartikel (S. 5) und die HOSI Wien in ihrer Presseaussendung (S. 15) schon alles gesagt. Betroffene waren auch aufgebracht genug, um spontan zwei Aktionen durchzuführen. Noch am 11. März suchten einige Aktivisten Stadtrat Rieder unangemeldet in seinem Büro auf, um ihn zu einer Diskussion über dieses Problem zu zwingen. Das Wiener Lokal-TV berichtete am Abend, mehrere Tageszeitungen an den nächsten beiden Tagen.
Eine Woche später, am 19. März, demonstrierte eine größere Gruppe AktivistInnen von ACT UP Wien bei der Pressekonferenz des Bürgermeisters im Rathaus gegen die Mißstände in der AIDS-Versorgung in Wien. Bürgermeister Helmut Zilk versuchte persönlich, zwei der AktivistInnen daran zu hindern, ein Transparent (mit der Aufschrift Mehr Krankenschwestern für kranke Schwestern) zu entrollen. Es kam zu einem Handgemenge und einem Gerangel. Derweil verteilten andere Flugblätter an die anwesenden JournalistInnen. Ganz Vollblut-Politiker meisterte Zilk auch diese Störung, befriedete die ohnehin friedlichen AktivistInnen mit dem Versprechen, ihre Anliegen dann vortragen zu dürfen, wenn das Thema Gesundheit (Gastpatientenproblem) an der Reihe sei. Dies wurde aber mit EXPO und anderen Themen sehr lange hinausgezögert, und dann, als es endlich zur Diskussion kam, suchte Zilk nach einem Vorwand, um sich beleidigt aus dem Staub zu machen. Dennoch war es eine gute Aktion. Während Rieder und Finanzstadtrat Hans Mayr über das Gastpatientenproblem dozierten, durfte die Gruppe ihre Spruchtafeln aufstellen und ihr Transparent entrollen, sodaß sie lange genug zu sehen waren. Das Wiener Lokalfernsehen berichtete über die Aktion am selben Abend, einige Zeitungen am nächsten Tag.