An die Zahnfee oder die Empirie glauben?
Paul Yvons „Anmerkungen der Redaktion“ zu meinem Gastkommentar in der Lambda Nr. 2/2019 können nicht unerwidert bleiben.
Er schreibt: NICHT steht dem Autor aber zu, seine fehlende staatsrechtliche Kenntnis von Aufgabe und Arbeitsweise des VerfGH [sic!] auf dem Rücken der Leser*innen abzuladen. Er unterschlägt ihnen nämlich (…) das entscheidende Argument, warum dieser Gerichtshof gar nicht anders handeln konnte: Der Verfassungsgerichtshof ist an geltendes Recht gebunden; er interpretiert die Verfassung in einem engen, heiklen und jedesmal neu zu vermessenden Spielraum der Verhältnismäßigkeit geltender Normen zu schützenswerten (Grund-)Rechten. (…) Dieser Spielraum wächst oder schrumpft mit der gesellschaftlichen Entwicklung, zu der auch die Rechtsprechung durch europäische Gerichte gehört.
Ich weiß ja nicht, wo er diese Definition herhat (klingt ein wenig nach Basteln mit Selbstbausatz („heikler Spielraum der Verhältnismäßigkeit“), aber im Prinzip kann ich sie durchaus unterschreiben.
Ich ignoriere einmal die verhatschte pathetische Metapher („Eine fehlende Kenntnis auf irgendjemandes Rücken abzuladen“ fällt wohl in die Kategorie „Stilblüte“) und erlaube mir, folgendes festzuhalten: Ich habe gar nichts unterschlagen, sondern im Gegenteil mit jedem Satz in meinem Kommentar die Arbeit des VfGH genau auf die in dieser Definition formulierten Prämissen hin abgeklopft. Und bin genau deswegen zu meinen Schlussfolgerungen gelangt. Das hat Paul Yvon offensichtlich nicht verstanden, weil er nicht bereit ist, sich mit der Materie inhaltlich überhaupt näher zu befassen. Er kompensiert das mit Floskeln und Allgemeinplätzen wie: „Der Verfassungsgerichtshof ist an geltendes Recht gebunden.“ Echt jetzt? Wer hätte das gedacht!
Beispiel § 209 StGB: 1997 hat die Europäische Menschenrechtskommission das unterschiedliche Mindestalter in Großbritannien als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention eingestuft. Der VfGH hatte also – gemäß obiger Definition – 2001 eigentlich gar keinen Spielraum mehr, die Beschwerde gegen § 209 abzuweisen. Dass er es dennoch tat, habe damals nicht nur ich, sondern auch die HOSI Wien und die gesamte Lesben- und Schwulenbewegung kritisiert!
Dass es EU-rechtswidrig war (vgl. Artikel 267 AEUV), die Rechtssache LON WILLIAMS nicht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen, war ebenfalls nicht bloß meine einsame Rechtsmeinung. Die ausführliche Kritik der HOSI Wien an der VfGH-Entscheidung in dieser Rechtssache findet sich übrigens hier – ich hatte auch in meinem Gastkommentar dazu verlinkt (vgl. auch LN 1/2005, S. 11 ff: „VfGH-Urteil: Die Schande“).
Und was die Ehe für alle betrifft, habe ich eigentlich bloß die rhetorische Frage gestellt, warum Bierlein nicht schon 2003 für die Öffnung der Ehe eingetreten ist, sondern erst 2017. Das war als Beispiel für eine naheliegende „kritische“ Frage gedacht, die es wert zu stellen gewesen wäre (aber dafür hätte man sich eben auf das Interview vorbereiten müssen!). Jedenfalls wäre es sehr spannend und interessant gewesen zu erfahren, welche Gründe es dafür gab.
Yvons Unterstellungen („fehlende Kenntnis“) können indes inhaltliche Argumente nicht ersetzen. Er möge also bitte zumindest ein konkretes inhaltliches Argument liefern, warum ich mit meiner Kritik dem VfGH unrecht getan hätte. Ich gehe dann gerne darauf ein.
Ebenfalls eine Unterstellung bzw. eine durchsichtige Ablenkungspolemik ist es, wenn Yvon insinuiert, ich hätte erwartet, in Vorbereitung auf das Bierlein-Interview um meine Expertise gefragt zu werden. Wie kommt er darauf? Yvon hätte doch andere ExpertInnen fragen oder bloß die vielfältigen und umfassenden Materialien der HOSI Wien konsultieren können.
Dass er sich jetzt als Schutzmantelmadonna vor den VfGH stellt und allen Ernstes behauptet, der VfGH hätte gar nicht anders handeln können und seine homophoben Entscheidungen fällen müssen, ist jedenfalls ein Verrat an der Arbeit der österreichischen Lesben- und Schwulenbewegung in den letzten 30 Jahren. Denn die Kritik am VfGH ist ja nicht meine Privatmeinung, sondern in all den Jahren „offizielle Linie“ der HOSI Wien gewesen – ich hatte in meinem Gastkommentar ohnehin entsprechende weiterführende Links angegeben! Und von anderen Organisationen gab es ebenfalls immer wieder heftige Urteilsschelte.
Es ist unfassbar, dass Yvon, der offenbar keine Kritik verträgt, jetzt aus gekränkter Eitelkeit die diesbezügliche Arbeit der HOSI Wien und der gesamten Bewegung in den Kübel tritt! Ich appelliere eindringlich an den HOSI-Wien-Vorstand, hier die Notbremse zu ziehen. Bei allem Verständnis dafür, dass Paul Yvon seinem als HOSI-Wien-Obmann sichtlich überforderten Sohn unter die Arme greifen will – ein Mindestmaß an Qualität ist dennoch dabei einzufordern. Das Interview war ja nicht sein erster Lambda-Beitrag, der von ziemlicher Ahnungslosigkeit und Uninformiertheit zeugt! Siehe auch meinen früheren diesbezüglichen Blog-Beitrag.
Und meint Paul Yvon das wirklich ernst, wenn er schreibt: „Dass der VerfGH die Ehe für Alle [sic!: „alle“ schreibt man auch nach der Rechtschreibreform klein!] ausgerechnet der türkis-blauen Regierung in den Herrgottswinkel gestellt hat, belegt seinen Mut zur Änderung auch in Zeiten, in denen er dafür ordentlich Gegenwind zu erwarten hat.“? Die meisten Erkenntnisse des VfGH gehen der jeweils amtierenden Regierung gegen den Strich. Wenn das schon Ausdruck von Mut sein soll, na dann gute Nacht. Das ist Rechtsstaatsverständnis auf der Höhe der Metternich-Zeit! Außerdem widerspricht sich Yvon ja damit selbst bzw. er kann sich nicht entscheiden: Soll er noch an die Zahnfee glauben (der VfGH fällt seine Erkenntnisse total objektiv und unabhängig anhand der oben definierten Leitlinien), oder soll er doch skeptisch sein (der VfGH lässt sich durch den jeweils zu erwartenden Gegenwind beeinflussen)? Darüber hinaus wissen wir ja alle, dass der VfGH politisch besetzt wird. Wir erinnern uns: Als 2017 die schwarz-blaue Koalition antrat, reklamierte die FPÖ die beiden ersten am VfGH freiwerdenden Richterposten für sich – und hat sie auch bekommen!
Anmerkungen:
Es sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass die Lambda-Redaktion sich weigert, diese Erwiderung abzudrucken. Tja, mich wundert oder überrascht das nicht…
Mein Appell an den Vorstand der HOSI Wien, in der nächsten Lambda Paul Yvons Aussagen in geeigneter Form zu korrigieren bzw. klarzustellen, dass er sich nicht von der Geschichte des Vereins distanzieren und keine Kindesweglegung begehen möchte und an dessen früherer Kritik am VfGH und seinen Entscheidungen festhält, wird wohl auch ungehört verhallen…
Zum Hype um Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein und zu anderen Hintergründen, warum die Lambda den VfGH jetzt auf groteske Weise in Schutz nimmt und die jahrzehntelange Arbeit der HOSI Wien desavouiert, habe ich einen weiteren Blog-Beitrag verfasst.