Øivind Foss: „Ich liebte einen Terroristen“
Der oberste Gestapo-Chef in Norwegen während der deutschen Besatzung, Helmuth Reinhard*, lebt heute unter seinem eigentlichen Namen Helmuth Patschke* in Heidelberg. Ich sehe ihn fast jeden Tag in der Nähe des Institutes, an dem ich arbeite, da er als Konsulent bei einem wissenschaftlichen Verlag, der Aufgaben im Universitätsbereich durchführt, tätig ist. (…)
Reinhard wurde von norwegischer Seite wegen qualifizierten Mordes an mindestens vier Personen angeklagt und darüber hinaus dringend der aktiven Beteiligung an den Deportationen norwegischer Juden nach Stettin und weiter nach Auschwitz verdächtigt. Die Ermittlungen waren kompliziert und langwierig. Reinhard selbst behauptete, nur auf rechtmäßige Weise „Partisanen und Saboteure bekämpft“ und von der Ermordung von Juden nichts gewußt zu haben.
Reinhard wurde in Deutschland in den schwerwiegendsten Anklagepunkten freigesprochen und für „Beihilfe zum Mord“ zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
So beginnt Øivind Foss sein Buch Jeg elsket en terrorist. Er war damals, seit September 1977, durch den Weltkirchenrat als internationaler Studentenpriester an der Universität und den Hochschulen Heidelbergs angestellt. Für ihn war eine der Ursachen für den westdeutschen Terrorismus gerade diese nie bzw. nur mangelhaft stattgefundene Entnazifizierung und Bewältigung der nazistischen Vergangenheit.
Tausende Reinhards leben in voller Freiheit im heutigen Deutschland. Viele saßen oder sitzen immer noch auf führenden Positionen innerhalb der staatlichen Verwaltung, der Gerichtsbarkeit oder in der Wirtschaft.
Auch in unseren Breiten wäre es an der Zeit, das Phänomen des Terrorismus in der BRD aus der Optik der skandinavischen Öffentlichkeit, als deren typischer Vertreter Foss gelten kann, und nicht durch die Skandalbrille der heimischen Boulevardpresse zu betrachten. Und wir Schwule haben allen Grund, Ursache und Wirkung am ehesten zu verstehen, war doch für die Schwulen der Nationalsozialismus, dem ca. 300.000 Homosexuelle** in den KZ zum Opfer fielen, in der BRD erst 1969 zu Ende, als der § 175, der in seiner von den Nazi verschärften Fassung bis dahin weiterbestanden hatte, reformiert wurde. Für die Homosexuellen bedeutete das Ende des Dritten Reiches lediglich, daß sie das KZ gegen ein bundesrepublikanisches Gefängnis tauschen konnten, während kein einziger Nazi-Richter zur Verantwortung gezogen wurde. Wie so viele andere Nazi schafften sie reibungslos den Übergang in die Nachkriegs-Institutionen oder kamen während der Adenauer-Ära wieder zu Amt und Würden in der reichen wohlgenährten Bundesrepublik.
1977 sitzt Jan-Carl Raspe schon in Stammheim. Das erste Treffen zwischen ihm und Foss findet bereits 1965 statt, als Foss in Berlin studierte. Dort begegnen sich die beiden in einem Soziologie-Seminar auf der Freien Universität. Eine platonische Freundschaft entsteht. Beide gehören der linken Studentenbewegung an, der auch fortschrittliche christliche Gruppen zuzurechnen sind. Øivind und Jan kommen sich im Lauf der Zeit menschlich näher, sie diskutieren Politik und Religion. Foss bewegt sich damals auch im späteren harten Kern der Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni, schätzt vor allem Ulrike Meinhof sehr.
Wenig in Jan-Carl Raspes Persönlichkeit deutete 1965-66 auf heroische Taten hin, aber es war eine Sehnsucht nach voller Hingabe für eine Sache in ihm. (…) Er suchte einen Glauben, aber fand ihn nicht. Seine spätere enge Bindung an Baader war eine Folge seines Hingabedranges. Für ihn wurde Baader wie eine Religion, die sein ganzes Dasein veränderte.
Als Øivind nach einem Jahr nach Norwegen zurückfährt, ladet er Jan-Carl ein, die Ferien gemeinsam zu verbringen. Jan nimmt an, sagt dann aber im letzten Moment ab.
Jan-Carl wurde anders. Als ich genau ein Jahr später, im Herbst 1967, nach Berlin zurückkam, hatte er sich den Kampfgruppen der Roten Zellen, die deutlich links von der linkssozialistischen Studentenbewegung standen, angeschlossen. Von früh bis spät war er mit Andreas Baader, dieser starken, einnehmenden Persönlichkeit, zusammen.
Øivind sucht Jan in dessen Wohnkollektiv auf:
Die Wohnung sah wie ein Mittelding zwischen Zeitungsraum und einem Antiquariat aus. Es roch alt. Auf den Regalen lagen Gasmasken, Keulen, Handgranaten, Pistolen und militärisches Gerät aller Art. Raspe saß an einem Tisch und zählte Geld aus den Sammelbüchsen der Roten Hilfe.
Als er mich sah, rief er: „Øivind, gut, daß du kommst. Denn nun geht’s bald los. Bald werden das Rathaus in die Luft gesprengt, die Militärdepots zerstört und die Verwirrung perfekt sein. Dann werden die Leute verstehen, dass alles nichts mehr hilft, und die sozialistische Räterepublik wird Realität sein!“
„Und die Arbeiterklasse?“ wollte ich wissen.
„Oh, die, die schließt sich an, wenn ihr nichts anderes übrigbleibt.“
„Glaubst du wirklich an dieses Abenteuer? Das ist ja reiner Mord!“ schrie ich
Woraufhin Foss unsanft aus der Wohnung geworfen wird. Nach diesem Eklat treffen sie sich nach einiger Zeit zufällig in der Uni-Mensa. Die erste Liebeserklärung:
Er faßte meinen Haarschopf und sagte: „Warum gabst du nie nach, Øivind? Warum wurdest du nicht mein Kamerad? Voll und ganz. Ich kann nichts mit Heiligen und geschlechtslosen Engeln anfangen. Zwei Freunde sind eine Einheit, nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Und du bist zum Teufel nochmal ein toller Kerl. Ein liebes kleines Geschöpf. Fast schön und häßlich zugleich. Sonderbar. O Gott, was hätten wir für Freunde werden können. Aber da hättest du einer von uns werden müssen. Einer aus der Zelle 7.“
Alles, was ich hörte, kam wie ein Wortstrom aus einem kleinen Lautsprecher, einer Maschine, und nicht von einem Menschen, und schon gar nicht von einem Menschen, den ich wie meinen eigenen Bruder geliebt hatte, ja mehr noch, liebte, wie David Jonathan liebte.
Ich konnte nichts sagen, aber als ich mich erhob, ergriff er mich, umarmte und küßte mich heftig und lange vor allen und flüsterte: „Øivind, denk an mich! Du weißt, ich mag dich, aber ich habe keine Wahl.“
Danach sahen sie sich nur selten. Jan-Carl war oft betrunken. Noch war die RAF nicht in den Untergrund gegangen, sondern operierte offen innerhalb der radikalen Studentenbewegung, versuchte, diese zu radikalisieren, indem sie die Pazifisten, die Anhänger der gewaltfreien Linie Rudi Dutschkes, lächerlich machte.
Ich mochte Jan-Carl und mitunter erlebte ich meine Zuneigung zu ihm wie ein Verliebtsein.
Ich wußte, es war gegenseitig. Er hatte oft seine tiefe Hingebung durch Worte und liebevolle Umarmungen gezeigt. Ich hatte mich etwas zurückgehalten, aber gleichzeitig war ich nie abweisend gewesen. Doch meine Vorurteile und mein verschlossenes Gefühlsleben waren das Ergebnis einer Erziehung und einer Umwelt, in der Liebe zwischen Männern als Todsünde betrachtet wurde. (…)
Ich liebte Jan-Carl, und als mir das klar wurde, suchte ich ihn jeden Tag auf, ohne ihn anzutreffen. Er war ständig unterwegs.
Eines Tages begegnen sich Jan und Øivind wieder in der Uni-Mensa und gehen zu Jan nach Hause.
„Endlich können wir uns aussprechen, Øivind! Ich hoffe, du hast dich von all deinen verdammten religiösen Hemmungen befreit. Du siehst gut aus! Wirkst freier. Gewissermaßen etwas frecher“, freute er sich. (…) Er lächelte mich strahlend an, mit einem Gesicht, das übernatürlich verklärt wirkte. Er kam langsam auf mich zu, blickte mir intensiv in die Augen mit wahnsinnig dunklen Augen. Schwarz und tief, unergründlich. Er legte seine Arme um meinen Leib und flüsterte: „Es ist höchste Zeit, daß wir miteinander schlafen, Øivind. Ich werde deine sanften hellblauen Augen entflammen. Dich wild wie einen kleinen Tiger machen. Ich weiß, daß es mir gelingen wird, weil ich weiß, daß du mich liebst.“
Ich war stumm und schmerzlich glücklich. Ich vergaß Gott und Hölle und stürzte mich in seine schönen warmen Arme. Wir vergaßen die Welt um uns herum, die Versammlungen, die Verabredungen, und die Demonstration am Abend. Wir waren den ganzen Abend, die Nacht und den ganzen folgenden Tag zusammen.
Es war ein Glück, das alles andere, was ich in meinem Leben erlebt hatte, übertraf.
Krank vor Liebe, wie der Dichter im Hohelied im Alten Testament schreibt, flohen wir von all den anderen. Zu mir nach Hause für einige Tage. (…) Ich war glücklich, auch wenn ich das Gefühl hatte, daß die Liebe zwischen uns den Keim einer Tragödie in sich trug. Aber im Glücksrausch des Augenblicks bedeutete das nichts. Es war im Gegenteil das Wahnsinnige an dem Ganzen, was das Erlebnis so herrlich, so stark und so heilig machte.
Wir taten nichts Produktives in diesen Tagen. Es war ein warmer Frühling in Berlin.
Doch lange sollte das Idyll nicht dauern. Nach dem Attentat des von der Springer-Presse aufgehetzten Neonazis Josef Bachmann [1944–1970] auf Rudi Dutschke [1940–1979] am Gründonnerstag 1968, das zusammen mit dem Mord an Benno Ohnesorg [*1940] bei einer Anti-Schah-Demonstration am 2. Juni 1967 durch den Polizisten und Ex-SS-Offizier Karl-Heinz Kurras *** [1927–2014] für Foss die unmittelbare Ursache für die völlige Radikalisierung der Bewegung war, sah er Jan-Carl nur mehr auf politischen Versammlungen.
Jan-Carl hatte sich verändert. Er besuchte mich nicht mehr. Und fragte ich ihn, ob er Zeit für einen Tratsch hätte, hatte er nicht einmal Zeit zu antworten. Das war bitter und schmerzlich. Viel schlimmer als damals, als er nicht nach Norwegen mitkam. Damals waren wir nur Bekannte, aber jetzt liebte ich ihn. Mehr denn je. Ich wußte, daß Andreas Baader, der jetzt sein Freund war, ihn mit Haut und Haar erobert hatte. Aber ich wußte auch, daß sich Jan-Carl in dieser Beziehung nicht frei und sicher fühlen konnte, denn dafür hatte Andreas zu viele intime Freunde und Freundinnen. Jan-Carl war sein Gefolgsmann, sein Jünger, der tat, was der Meister sagte. Ich wußte, daß ein latenter Unterwerfungsdrang in Raspe lag, ein selbstauslöschender Trieb, sich ganz und gar von einem Menschen, der stärker als er selbst war, besitzen zu lassen.
Ich befand mich am Randes des Selbstmordes. Der, den ich liebte, war verloren. Ich grübelte Tag und Nacht und war drauf und dran, zugrunde zu gehen.
Um Jan-Carl zurückzugewinnen, begann Foss sogar in einer der Zellen mitzuarbeiten, stieg aber gleich wieder aus. Das letzte Mal sehen sich die beiden nach der Trauerkneipe zum 1. Jahrestag der Ermordung Ohnesorgs. Fünfzehn, sechzehn Aktivisten waren anwesend, u. a. Meinhof, Ingrid Schubert, Raspe, Proll und Söhnlein.
Wir waren nur drei Sympathisanten, denen man die Ehre erwiesen hatte, da wir Benno Ohnesorg aus der Evangelischen Studentengemeinde in Berlin gekannt hatten.
Neben Foss waren es zwei Studenten aus Göteborg, die Verstecke in Schweden und Norwegen ausfindig machen sollten. Auf dem Fest kommt es wieder zu einem Streit. Raspe läuft weg, Foss hinterher. Sie schlafen das letzte Mal miteinander.
In seiner Nähe wußte ich, daß ich schwul war. Wir lagen dicht aneinandergepreßt, genossen die vollkommene Verschmelzung unserer Körper. Unsere Begierde explodierte in der sublimsten Form sexueller Befriedigung. Der Theologe und der Guerillasoldat. Nichts konnte uns jetzt trennen! (…)
Wir waren Freunde, aber unsere Wege führten in zwei ganz verschiedene Richtungen. Jan-Carl ging mit fest entschlossenem Schritt in die Untergrundbewegung, ich etwas zaudernder und ziemlich unsicher in ein Dasein als Theologe in der Norwegischen Kirche. (…)
„Leb’, wie du leben mußt, Øivind, das ist das Einzige, was im Leben zählt. Wir rufen uns an, schreiben uns oder halten Kontakt durch die zwei Theologen, die zum Kirchentreffen nach Uppsala (Juli 1968) kommen werden!“
Von Raspe hört Foss erst wieder, als der Anwalt Horst Mahler Det norske Studentersamfund (Die norwegische Studentenvereinigung) besucht. Hie und da erhält er eine Karte von Jan ohne Unterschrift und Adresse. Einmal richtet Ingrid Schubert in einem Brief Foss Grüße von Raspe aus:
Jan bittet mich, dir zu sagen, daß du ein lieber Kerl bist, obwohl du Christ bist und unsere Methoden ablehnst. Er sehnt sich nach dir!
Foss trifft Schubert im April 1975 zufällig bei dänischen und deutschen Bekannten in einer kleinen Stadt an der dänischen Westküste:
Gegen Ende des Abends tanzten wir miteinander. Dicht aneinandergedrückt. Wir sagten nichts, aber ich glaube, wir dachten beide an Jan-Carl. Ich weiß nicht warum, aber sie waren sich sehr ähnlich.
Ingrid Schubert beging 1978 in ihrer Isolationszelle „Selbstmord“. Raspe saß bereits seit 1972 im Gefängnis. 1977 wurde er zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilt. Am 18. Oktober 1977 in Stammheim ermordet.
Als ich von Jan-Carls Tod erfuhr, starb auch ein Teil von mir selbst, die brennenden Gefühle für einen anderen Menschen, den man einem verletzlich nahestehen weiß. Ich konnte wochenlang meinen Dienst als Priester nicht ausüben, sondern suchte die Einsamkeit, schuldbeladen im Schmerz. Sein helles Gesicht leuchtete die ganze Zeit vor mir.
Einmal hatte er auf unerklärliche Weise einen Zettel herausschmuggeln können: Eines Tages im Juli erhielt ich in Drammen (bei Oslo) einen Brief von einer unbekannten Frau in Stuttgart. Da schrieb er so fröhlich: „Mein lieber, lieber Øivind. Ich denke oft an dich und deinen ‚schweren‘ Beruf als Pfarrer. Wie geht es dir eigentlich? Bist du glücklich? Vielleicht sehen wir uns mal in der Dritten Welt oder in deiner ‚himmlischen‘? Wer weiß? Tschüßchen. Dein J.
Nachträgliche Anmerkungen:
* Schreibweise im norwegischen Original. Der vollständige korrekt geschriebene Geburtsname lautet Hermann Gustav Hellmuth Reinhard Patzschke (1911–2002).
** In den Anfängen waren die Dimensionen nicht so wirklich klar. Erst mit der einsetzenden wissenschaftlichen Forschung änderte sich das. Anfangs, 1980, ging die HOSI Wien auch mit einem Transparent auf die Straße, auf dem zu lesen war: „300.000 Homosexuelle in Nazi-KZs gemordet“. Das stimmte zwar inhaltlich, wenn man von einem Anteil von 5 % Homosexuellen an der Gesamtbevölkerung und von 6 Millionen in den Konzentrationslagern ermordeten Menschen ausgeht (aufgrund dieser Rechnung kam offenbar die evangelische Kirche Österreichs zu dieser Zahl, die meines Wissens von ihr in Umlauf gebracht worden war), aber natürlich ist diese Zahl irreführend. Wegen ihrer homosexuellen Orientierung wurden – wie man später erforschte – weit weniger Menschen ermordet (man geht von rund 16.000 aus). Siehe dazu auch meinen Beitrag für die Publikation des Gedenkprojekts Erinnern für die Zukunft (Wien 2009).
*** Hier hat sich Foss (S. 13) indes geirrt: Kurras, Jahrgang 1927, konnte schon von seinem Alter her kein SS-Offizier gewesen sein. Er meldete sich 1944 nach der Notmatura freiwillig zum Kriegsdienst.
Foss scheint seinen Vornamen üblicherweise „Øyvind“ zu schreiben. Die Form „Øivind“ scheint sich nur bei diesem Buch zu finden.
Dieser Beitrag über das Buch von Øivind Foss wurde im HABS-Info (Basel) Nr. 3–4/1982 und gekürzt im deutschen HuK-Info Nr. 32 (1–2/1982) nachgedruckt.