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§ 209: Warten auf den Verfassungsgerichtshof

Veröffentlicht am 19. Oktober 2001
Auf einer Pressekonferenz am 20. September 2001 äußerten sich Präsident und Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs über die anstehende Beschäftigung mit einer Beschwerde gegen das höhere Mindestalter im Strafgesetz (§ 209). Die Ansagen dazu gaben nicht unbedingt Anlass zu Optimismus, wie ich in diesem Beitrag in den LN 4/2001 ausführte. Der VfGH steckte in einem Dilemma: Immerhin hatte er 1989 die Verfassungsmäßigkeit des § 209 festgestellt.

So wie es nun aussieht, wird wohl der Verfassungsgerichtshof entscheiden, wie es beim § 209 weitergeht. Die blauschwarze Regierung und Parlamentsmehrheit wird aller Voraussicht nach vor diesem Entscheid in dieser Sache nichts unternehmen, weil sich die Koalitionsparteien nicht einigen können. Die FPÖ, die teilweise vorgibt, eine Reform zu wünschen, findet sich plötzlich in der früheren Rolle der SPÖ wieder: Sie ist in Geiselhaft der kleineren Koalitionspartnerin – denkt aber natürlich nicht im Traum daran, wegen dieses Orchideenthemas (O-Ton Ewald Stadler) einen Koalitionsstreit vom Zaun zu brechen (vgl. Beitrag auf S. 9). Ein kleiner, aber feiner Unterschied besteht allerdings: Während die SPÖ alle ihre Abgeordneten auf Abschaffungs-Linie gebracht hat, ist die FPÖ keineswegs geschlossen für die Streichung. Bei einer freien Abstimmung wäre wahrscheinlich sogar zu bezweifeln, ob überhaupt 13 FPÖ-Abgeordnete für die Aufhebung votieren würden, damit mit den roten und grünen Stimmen eine Mehrheit zustande kommen könnte. Da müßte wohl vorher erst der ja bekanntlich auch Männern zugeneigte Alt-Parteiobmann Jörg Haider ein – ohnehin längst fälliges – Machtwort sprechen. Aber dazu ist Haider wohl zu feig.

Die Untätigkeit und Lähmung der Koalition in dieser Frage haben natürlich auch ihr Gutes: Sie kann keinen dieser faulen und absurd-grotesken Kompromisse beschließen, die von ÖVP-Justizsprecherin Maria Fekter seit einiger Zeit immer wieder nebulos ins Spiel gebracht werden.

 

Skepsis angebracht

Wie wird aber der Verfassungsgerichtshof entscheiden? Allgemein herrscht die optimistische Annahme vor, daß er den menschenrechtswidrigen Paragraphen als verfassungswidrig aufheben wird. Dieser Optimismus, den der Autor dieser Zeilen im übrigen nie geteilt hat, wurde auf einer Pressekonferenz am 20. September 2001 vom Präsidenten und Vizepräsidenten des VfGH wohl in zweierlei Hinsicht leicht gedämpft. Zum einen, was den Zeithorizont betrifft: Es wurde bekanntgegeben, daß die Beschwerde gegen § 209 nicht auf der Tagesordnung der Oktober-Session des VfGH stehe. Man wisse zwar, daß „die Politik auf uns wartet“, aber die Sache sei „äußerst schwierig und sensibel“, erklärte Präsident Ludwig Adamovich. Die nächste Möglichkeit zur VfGH-Entscheidung ist die Dezember-Session, aber es sei noch nicht sicher, ob die Sache dann auf der Tagesordnung stehen werde. Vizepräsident Karl Korinek schränkte überdies ein, daß noch gar nicht feststehe, ob der VfGH wirklich „in die Sache einsteigen“ werde.

Zum anderen hinterließen die weiteren Erklärungen Adamovichs auch Zweifel, ob die Sache wirklich schon „gegessen“ sei und für die Menschenrechte positiv ausgehen würde. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Verfassungsmäßigkeit des § 209 unter Berufung auf „Expertenmeinungen und Erfahrungstatsachen“, die die sogenannte Prägungstheorie vertraten, bereits 1989 in einem Verfahren festgestellt wurde (vgl. LN 3/2001, S. 28 ff). Jetzt stelle sich daher für den VfGH im Vorfeld zunächst einmal die Frage, ob es neue Erkenntnisse gibt, die diese Expertenmeinungen in Frage stellen. Zu sagen, daß „die Prägungstheorie nie gestimmt hat“, werde laut Adamovich nicht ausreichen: „Das muß etwas sein, was 1989 nicht auf dem Tisch lag“. Dies scheint mir allerdings eine grobe Fehleinschätzung zu sein, wie später noch erläutert wird.

Außerdem, so hieß es auf der Pressekonferenz, müsse noch geklärt werden, ob es Aufgabe des Antragstellers ist zu beweisen, ob etwas und was neu ist – oder ob das vom VfGH selbst, z. B. mit einem Gutachten erhoben werden muß. Dann werde man überlegen, was tatsächlich neu ist – und erst in dritter Linie „erfolgt dann allenfalls der Einstieg in die Sache“, präzisierte Korinek.

Das verheißt nichts Gutes. Blenden wir zurück: Bei dem erwähnten Verfahren handelt es sich um eine Individualbeschwerde, die ein Betroffener – WALTER ZUKRIGL – praktisch im Auftrag und mit Unterstützung der HOSI Wien im November 1988 eingebracht hatte. Für die HOSI Wien als Verein war es ja nicht möglich, selber eine solche Beschwerde einzubringen. Die HOSI Wien hatte damals auch die gesamten Verfahrenskosten – vertreten war Zukrigl durch Rechtsanwalt Otto Dietrich – übernommen und dafür jahrelang gespart und Fundraising durch Spendenaufrufe usw. betrieben. Immerhin beliefen sich die Gesamtkosten auf rund S 350.000,–.1

 

Echtes Skandalurteil

Das damalige VfGH-Urteil war ein echter Skandal (vgl. LN 2/1990, S. 10 ff). Obwohl der HOSI-Anwalt einen 67seitigen Schriftsatz mit ausführlichen Argumenten, Studien und Gutachten, die zur Aufhebung ähnlicher Bestimmungen im Ausland geführt hatten, vorgelegt hatte, wurden seine Ausführungen von den Verfassungsrichtern in ihrem Urteil in genau drei Sätzen zusammengefaßt, während den Argumenten der Regierung, deren Schriftsatz insgesamt nur 14 Seiten umfaßte, auf sieben Seiten Raum gegeben wurde. Die eigentliche „Begründung“ des Urteils, die in Wirklichkeit gar keine war, erstreckt sich auf zwei der insgesamt 16 Seiten umfassenden Urteilsausfertigung. Die Richter beriefen sich ausschließlich auf die von der Regierung vorgebrachten Argumente, die im wesentlichen aus den Expertenmeinungen bestanden, die seinerzeit 1970/71 anläßlich der Aufhebung des Totalverbots und der Einführung des § 209 vorgebracht wurden. Die neueren Expertenmeinungen, die im Schriftsatz des HOSI-Anwalts ausführlich dargelegt worden sind, wurden vom VfGH nicht einmal ignoriert, wahrscheinlich nicht einmal gelesen, denn sonst wären seine Entscheidung und seine Begründungen in der Form nicht möglich gewesen. Dieser Verdacht muß sich anhand des Urteils wirklich aufdrängen.

Das heißt aber, daß es nicht darum gehen kann, etwas auf den Tisch zu legen, was es 1989 noch nicht gab, sondern darauf zu bestehen, daß das damals auf den Tisch Gelegte ordnungsgemäß und sachlich gewürdigt wird. Denn seit 1989 hat sich nicht wirklich was Neues ergeben, außer daß auch die letzten Länder, darunter Deutschland, das meist als Vorreiter und Vorbild herhalten muß, ihre unterschiedlichen Mindestaltersgrenzen aufgehoben haben und daß die Europäische Menschenrechtskommission in Straßburg in einer britischen Beschwerde die Konventionswidrigkeit solcher unterschiedlicher Mindestaltersgrenzen grundsätzlich festgestellt hat. Auf wissenschaftlichem Gebiet haben sich keine neuen Erkenntnisse ergeben, zumindest nicht seit 1989, weil – wie gesagt – bereits damals die Prägungstheorie längst allgemein als falsch und obsolet angesehen wurde – außer bei den Verfassungsrichtern und einigen offenbar einflußreichen Politikern.

 

Nazi-Propaganda

Die Aufgabe des VfGH müßte es also folglich sein, herauszuarbeiten, ob und wie sich die Expertenmeinungen seit den Ausführungen und Begründungen in der Regierungsvorlage 1970, auf die sich der VfGH 1989 ausschließlich stützte, geändert haben. In diesem Fall könnten wir einigermaßen beruhigt sein: Die Gutachter, die damals ihre homophoben und reaktionären Vorurteile als wissenschaftliche Expertenmeinungen verbrämt haben, sind Gott sei Dank schon alle tot. Heute würde wohl kein Experte und keine Expertin, der/die noch einen Ruf zu verlieren hat, sich trauen, derartigen Unsinn zu verzapfen.

Ein Gutteil der Erläuterungen zu den vier 1971 eingeführten Homosexuellenparagraphen stammte aus der Feder Roland Graßbergers, der Professor für Strafrecht, Strafverfahrensrecht und Kriminologie an der Universität Wien war. Kostproben seiner „wissenschaftlichen“ Ergüsse von damals haben wir anläßlich seines Todes im August 1991 veröffentlicht (LN 4/1991, S. 22 f). Auf Graßberger, der Homosexualität als „Entartungserscheinung“ bezeichnete, deren „unerbittliche“ Bekämpfung er forderte, beriefen sich schon jene Nazis, die während des Dritten Reiches auch in Deutschland für die Einführung der Strafbarkeit der weiblichen Homosexualität – allerdings vergeblich – plädierten.

Dies ist ein augenfälliges Beispiel dafür, wie lückenhaft die sogenannte Entnazifizierung auch in der österreichischen Justiz(wissenschaft) war und wie nationalsozialistisches Gedankengut bis zum heutigen Tag nachwirkt. Etwas überspitzt kann man durchaus sagen, daß heute immer noch Menschen eingesperrt werden, weil dieses Nazi-Gedankengut über Regierungsvorlagen und VfGH-Urteile bis heute tradiert wurde. Eigentlich müßte der VfGH seine Aufgabenstellung noch weiter ausdehnen und sich anschauen, was es seit der anti-homosexuellen Nazi-Propaganda vor 1945 an neuen Expertmeinungen gibt, denn in Wirklichkeit ist der österreichische Stand von 1971 jener Nazideutschlands von vor 1945.

Das VfGH-Urteil war, wie gesagt, ein veritabler Skandal. Die HOSI Wien verabschiedete auf ihrer Generalversammlung im Februar 1990 einen geharnischten offenen Brief an den Verfassungsgerichtshof, in dem wir dieses „Skandalurteil“ und seine Begründung als „internationale Blamage ersten Ranges“ bezeichneten. Es war wirklich mehr als schleißig.

 

Rücktrittsreife Richter oder ein Fall für die drei Weisen

Die 14 Richter des Verfassungsgerichtshofs sind nun in einem schweren Dilemma. Einerseits können sie sich – immerhin ist inzwischen ein neues Jahrtausend angebrochen – nicht mehr auf die Nazi-Propaganda aus der Regierungsvorlage 1971 berufen und diese neuerlich zur Grundlage ihrer Entscheidung machen. Dort steht ja z. B. auch der inzwischen zur allgemeinen Lachnummer gewordene unsägliche Schmarrn über die weibliche Homosexualität – als Begründung, warum § 209 nicht für lesbische Beziehungen gilt: Schließlich wären die Tathandlungen in der Regel nur schwer faßbar. Die Grenzen zwischen freundschaftlichen und Zärtlichkeitsbezeugungen, Berührungen im Zug von Hilfeleistungen bei der Körperpflege udgl. einerseits und echten gleichgeschlechtlichen Akten andererseits entzögen sich weitgehend der Feststellung im Strafprozeß. Auch der VfGH entblödete sich 1989 nicht, diese Stelle wieder zu zitieren. Heute sitzen im VfGH aber immerhin drei Frauen – die können dann wenigstens ihren männlichen Kollegen Ad-hoc-Aufklärungsunterricht über weibliche Sexualität geben.

Nein, es ist einfach unmöglich und undenkbar: Auf diese „Expertenmeinungen und Erfahrungstatsachen“ von 1971 kann der VfGH heute nicht mehr zurückgreifen, ohne sich bis aufs Hemd zu blamieren – selbst dann nicht, wenn es nicht gelänge, neue grundlegende Erkenntnisse vorzubringen, die sich seit 1989 ergeben haben (was, wie vorhin ausgeführt, nicht wirklich möglich sein wird).

Andererseits sitzen in dem 14köpfigen Gremium noch fünf Richter, die an der Entscheidung aus 1989 mitgewirkt haben: Präsident Ludwig Adamovich, Vizepräsident Karl Korinek sowie Kurt Gottlich, Kurt Heller und Karl Spielbüchler. Wie sollten die plötzlich einen etwaigen Meinungsumschwung erklären? Sie werden in unauflöslichen Argumentationsnotstand geraten. Sie könnten sich natürlich damit rechtfertigen, daß Zukrigl mit seiner Beschwerde später auch in Straßburg abblitzte, aber: Erstens trifft der Vorwurf, daß man der Nazi-Propaganda der österreichischen Bundesregierung aufgesessen ist, natürlich auch die RichterInnen der damaligen Europäischen Menschenrechtskommission, und zweitens hat diese wenigstens dann 1997 ihren Fehler in der vorhin erwähnten britischen Beschwerde korrigiert.2

Eigentlich bleibt diesen fünf Richtern daher nur eine Konsequenz: Rücktritt. Oder weniger elegant: Sie lassen sich in dieser Sache von den Ersatzmitgliedern vertreten – praktischerweise gibt es derer sechs. In jedem Fall wird es nicht gelingen können, eine Meinungsänderung mit irgendwelchen neuen Erkenntnissen zu begründen, die sämtliche bisherige Erkenntnisse der Sexualwissenschaften revolutionierten.

Sollte der VfGH unter Berufung auf die Argumente aus 1971 den § 209 nochmals für verfassungskonform befinden, dann wären wohl alle 14 RichterInnen rücktrittsreif. Das wäre dann ein Fall für drei Weise.

 

Unermeßliche Schuld

Warum die fünf damals beteiligten Richter zurücktreten müssen, ist klar: Sie haben eine Fehlentscheidung getroffen. Da es sich dabei um keine Lappalie, sondern um Dimensionen unermeßlichen Leids handelt, ist Rücktritt die einzige angemessene Konsequenz. Aufgrund dieser Fehlentscheidung wurden seither rund 250 (!) Menschen in Österreich nach § 209 verurteilt und ins Gefängnis geworfen. Von vielen wurde dadurch auch die bürgerliche Existenz zerstört. Unermeßlicher Schaden wurde angerichtet. Leider kann man die Verfassungsrichter dafür nicht anderweitig zur Verantwortung ziehen, und leider auch nicht jene, die inzwischen pensioniert sind. Sie würden es verdienen, daß man ihnen ihre ohnehin üppigen Pensionen kürzt, um im Gegenzug jene zu entschädigen, die seit 1989 unter dieser Menschenrechtsverletzung psychisch, physisch und finanziell gelitten haben.

 

HOSI Wien will Geld zurück

Sollte § 209 vom VfGH aufgehoben werden, dann wollen auch wir unser Geld zurück. Es ist nicht einzusehen, daß wir S 350.000,– Schaden haben, weil die Richter des VfGH, wie sich dann herausgestellt haben wird, 1989 ein Fehlurteil gefällt haben.

Es wird jedenfalls spannend, wie sich der VfGH aus dieser Affäre ziehen wird. Ohne Gesichtsverlust wird es nicht gehen. Am ehrlichsten wäre es natürlich, er würde den Irrtum und das Fehlurteil aus 1989 einbekennen und sich dafür bei allen Betroffenen entschuldigen.

Apropos Entschuldigung. Eine solche wäre spätestens nach Aufhebung des § 209 auch vom Nationalrat offiziell fällig. Ähnlich wie in Deutschland, wo der Bundestag im Dezember des Vorjahres in einer Entschließung nicht nur alle homosexuellen NS-Opfer rehabilitierte, sondern auch sein Bedauern darüber zum Ausdruck brachte, daß das Totalverbot nach § 175 im Strafrecht der BRD noch bis 1969 in Kraft blieb (vgl. LN 1/2001, S. 42). Auch die HOSI Wien wird eine solche Rehabilitierung und Entschuldigung einfordern – für alle, die während des Anschlusses, aber auch nach 1945 aufgrund von § 129 I b und nach 1971 gemäß den §§ 209 und 210 verfolgt und eingesperrt worden sind. Außerdem muß das erlittene Unrecht auch finanziell entschädigt werden, nicht zuletzt durch Anerkennung der aufgrund dieser menschenrechtswidrigen Paragraphen im Gefängnis verbrachten Haftzeiten als Ersatzzeiten auf die Pension.

 

Fußnoten:

1 Über das damalige Verfahren berichteten die LN in folgenden Ausgaben: 1/1989, S. 31, 2/1989, S. 10 f, und 2/1990, S. 10 ff.

2 Im Mai 1992 wurde Zukrigls Beschwerde als unzulässig abgewiesen (vgl. LN 3/1992, S. 28) – sie war von der HOSI Wien wegen der geringen Erfolgschancen und der hohen Kosten nicht mehr unterstützt worden. 1995 erklärte die Europäische Menschenrechtskommission einen weiteren 209er-Fall aus Österreich für unzulässig, und zwar jenen des früheren Kärntner ORF-Landesintendanten Heinz Felsbach. Die HOSI Wien kritisierte damals die Kommission in Straßburg in einer Presseaussendung heftig dafür, daß auch sie sich in ihrer Entscheidung auf Nazi-Gutachten gestützt hatte, und richtete auch entsprechende Schreiben an den Präsidenten der Kommission und den Generalsekretär des Europarats (vgl. LN 4/1995, S. 25 ff). Möglicherweise hat unsere damalige Urteilsschelte auch zum Gesinnungswandel der Kommission 1997 im Fall Euan Sutherland gegen das Vereinigte Königreich geführt (vgl. LN 1/1998, S. 50 f).