VfGH-Urteil: Die Schande
Am 15. Oktober 2004, dem Erscheinungsdatum der letzten Ausgabe der LN, endete auch offiziell die Herbstsession des Verfassungsgerichtshofs. Eine der dabei zur Entscheidung anstehenden Beschwerden war jene des US-Staatsbürgers LON WILLIAMS, der in den Niederlanden mit einem Deutschen verheiratet ist. Dieser konnte eine ihm bei einer internationalen Organisation in Wien angebotene Stelle nicht annehmen, weil die österreichischen Behörden die in den Niederlanden geschlossene gleichgeschlechtliche Ehe nicht anerkannt und daher Williams keine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung erteilt haben. Nach Ansicht des Klägers verstößt dies gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und gegen EU-Recht, das die Freizügigkeit aller EU-BürgerInnen innerhalb der EU und den Familiennachzug ihrer EhegattInnen – auch aus Drittstaaten – vorsieht (vgl. zuletzt LN 4/2004, S. 7). [Bzw. Presseaussendungen der HOSI Wien vom 23. August 2004 sowie vom 26. August 2004]
Obwohl der VfGH sein Erkenntnis am 14. 10. ausfertigte, wurde es zu diesem Termin nicht veröffentlicht – das geschah erst 14 Tage später. Die HOSI Wien, die den Fall betreut, hielt dennoch am 15. 10. im Café Landtmann eine Pressekonferenz ab, zumal sich Lon Williams zufällig in Wien aufhielt. Hubert Wagner, Wiener Rechtsanwalt des Klägers, meinte damals: „Wir rechnen, dass der VfGH die Causa dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg zur sogenannten Vorabentscheidung vorlegen wird. So könnte sich der VfGH am einfachsten aus der Affäre ziehen. Für meinen Mandanten würde dies jedoch bedeuten, dass er noch weitere Jahre auf eine Entscheidung und auf Gerechtigkeit warten müsste.“
Lon Williams sieht in der Nichtanerkennung seiner Ehe und in der Verweigerung einer Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung durch die österreichischen Behörden eine glatte und eindeutige Verletzung seiner Grundrechte – und die seines deutschen Ehemannes – aufgrund ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung. Denn für ein verschiedengeschlechtliches Ehepaar wäre es in derselben Situation überhaupt kein Problem, sich gemeinsam in Österreich niederzulassen: „Ich bin wild entschlossen, die Sache bis zu einem positiven Ausgang durchzukämpfen, denn dies ist ein Präzedenzfall, der für viele gleichgeschlechtliche Paare in derselben Lage in der gesamten EU von Relevanz ist.“
Traurige Allianz
Der Autor dieser Zeilen berichtete auf der Pressekonferenz auch, dass Österreich nicht nur „Normalsterbliche“ in Sachen Familiennachzug diskriminiert, sondern auch das diplomatische Personal ausländischer Botschaften: „Die österreichischen Behörden verweigern den eingetragenen gleichgeschlechtlichen PartnerInnen von MitarbeiterInnen ausländischer Botschaften nicht nur diplomatische Immunität und Privilegien, sondern sogar eine Aufenthaltsgenehmigung als Familienangehörige. Uns sind mehrere solcher Fälle bekannt. Laut einer diesbezüglichen Untersuchung des norwegischen Außenministeriums ist Österreich neben Italien und der Türkei das einzige Land in Europa, das diese Position gegenüber ausländischen DiplomatInnen einnimmt. Selbst Russland und viele andere ehemalige Ostblockländer sind da weitaus fortschrittlicher.“
Die Pressekonferenz stieß auf großes Medienecho, Williams und der Autor dieser Zeilen äußerten sich zu dem Fall in einem Studiointerview auf Puls TV und für die ORF-Sendung 25 – Das Magazin. Auch Tageszeitungen berichteten am 16. Oktober über die Angelegenheit.
Schwere Vorwürfe
Am 28. Oktober wurde dann das VfGH-Erkenntnis veröffentlicht (Aktenzeichen B 1512/03-6): Der VfGH hat im Vorgehen der österreichischen Behörden keine Verfassungs- oder Menschenrechtswidrigkeit sehen wollen und sich zudem sogar – EU-rechtswidrig – geweigert, die Sache dem EuGH in Luxemburg zur Vorabentscheidung vorzulegen. Allerdings hat der VfGH das Verfahren zur endgültigen Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof (VwGH) abgetreten.
Die HOSI Wien erhob als Reaktion auf diese Entscheidung in einer Aussendung am 2. November schwere Vorwürfe gegen den VfGH: „Das Urteil ist beschämend und eines Höchstgerichts unwürdig“, erklärte Obfrau BETTINA NEMETH. „Zum einen beleidigt der Gerichtshof in seinem Urteil auf unerträgliche Weise den Beschwerdeführer und seinen Ehegatten, indem er deren Ehe ständig als ‚andere Art von Beziehung‘ bezeichnet und vorgibt, der Beschwerdeführer wolle deren Gleichstellung mit einer Ehe, und dabei konsequent ignoriert, dass die beiden ja verheiratet sind und bereits die gleiche Heiratsurkunde wie jedes verschiedengeschlechtliche Ehepaar in Holland haben. Zum anderen sind die einzelnen Begründungen des VfGH teils fadenscheinig, teils schlicht falsch bzw. nicht auf dem aktuellen Stand des EU-Rechts, teils widersprüchlich und vor allem vollkommen willkürlich, wie leicht nachzuweisen war.“
„Wir haben in einer ausführlichen und leicht nachvollziehbaren Kritik die einzelnen Passagen des Urteils gleichsam in der Luft zerrissen. Es ist wirklich eine Schande, dass der VfGH ein derartig schlampiges Urteil zu erlassen wagt“, ergänzte Obmann CHRISTIAN HÖGL. „Auch beim § 209 StGB hat der VfGH mehrfach seine homophobe Flagge gezeigt. Offenbar denken die VerfassungsrichterInnen in ihrer Allmacht, sie seien sakrosankt, weil es gegen ihre Rechtsbeugung keine innerstaatliche Handhabe mehr gibt. Wobei sie in diesem Fall dem Beschwerdeführer sogar noch den Weg zu der zuständigen europäischen Instanz abgeschnitten haben.“
EU-rechtswidrig
Dieses Manöver ist deshalb besonders perfid und verwerflich. Laut Artikel 234 (c) EG-Vertrag ist ein „einzelstaatliches Gericht (…), dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit den Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, zur Anrufung des EuGH verpflichtet, wenn eine Frage über die Auslegung des Vertrags bei diesem einzelstaatlichen Gericht gestellt wird – außer die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist so offensichtlich, dass kein Spielraum für vernünftige Zweifel daran bleibt. Zieht man die englische Fassung dieses Artikels heran („court … against whose decisions there is no judicial remedy under national law“), könnte man zur Not noch argumentieren, durch die Abtretung der Entscheidung an den VwGH wäre der innerstaatliche Instanzenzug noch nicht ausgeschöpft, wiewohl das VfGH-Urteil selbst mit keinem innerstaatlichen Rechtsmittel mehr angefochten werden kann.
Auf jeden Fall hat Anwalt Hubert Wagner in seiner ergänzenden Stellungnahme an den VwGH neuerlich den Antrag gestellt, die Sache – sollte er von den Argumenten des Beschwerdeführers nicht überzeugt werden können – dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen: „Das EU-Recht zur Frage des Ehegattenbegriffs und dessen Geltung auch für gleichgeschlechtliche Ehegatten ist zwar für den Beschwerdeführer eindeutig klar und lässt für ihn eigentlich keinen Spielraum für irgendwelche vernünftige Zweifel, sollte sich aber der Verwaltungsgerichtshof dieser Auffassung nicht anschließen, dann ist die Sache dem EuGH vorzulegen.“ Weitere Hintergrundinformation dazu untenstehend. Die LN werden natürlich weiter über den Fall und die Entscheidung des VwGH berichten. Sollte diese für Williams negativ ausgehen, bleibt ihm noch der Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg – nicht zu verwechseln mit dem EuGH.
Neue EU-Richtlinie
Die Rechtssache ist in der Tat für jeden Laien eindeutig: Denn im Zuge der Vorarbeiten zur „Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten“ (vgl. zuletzt LN 1/2004, S. 8) wurden auch die Definition des Begriffs der von der Richtlinie erfassten „Familienangehörigen“ im allgemeinen und die Definition des Begriffs „Ehegatte“ im besonderen ausführlich diskutiert und in einer Weise festgelegt, die auch endgültige Rückschlüsse auf die Definition des Begriffs „Ehegatte“ in der derzeit geltenden Verordnung 1612 aus 1968 erlaubt. Richtlinie 38/2004 muss bis April 2006 in nationales Recht umgesetzt werden und wird dann die Verordnung 1612/68 ersetzen.
Während 1968 keinerlei rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bestand, hat sich dies seither entscheidend verändert, wobei es neben der Öffnung der standesamtlichen Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in den Niederlanden (2001) und Belgien (2003) auch zur Einführung verschiedener Rechtsinstitute wie der eingetragenen Partnerschaft in etlichen Ländern des EWR gekommen ist (Dänemark, Norwegen, Schweden, Island, Niederlande, Finnland, Frankreich, Portugal, Deutschland und zuletzt Luxemburg). Deshalb war es unvermeidlich, diese Entwicklungen in der neuen Richtlinie 38/2004 zu berücksichtigen. Und in dieser bezeichnet der Ausdruck „Familienangehöriger“ laut Artikel 2 Nummer 2 folglich nicht nur
a) den Ehegatten;
sondern auch – völlig neu im Vergleich zur Verordnung 1612/68 –
b) den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehene Bedingungen erfüllt sind.
Da in dieser Aufzählung der gleichgeschlechtliche Ehegatte nicht ausdrücklich vorkommt, aber auch nicht unter b) subsumiert werden kann (denn die gleichgeschlechtliche Ehe ist keine eingetragene Partnerschaft, gerade auch nicht in den Niederlanden, wo dieses Rechtsinstitut für gleich- und verschiedengeschlechtliche Paare zusätzlich zur gleich- und verschiedengeschlechtlichen Ehe besteht), und da es denkunmöglich ist, dass das Europäische Parlament und der Rat in dieser Richtlinie für die gleichgeschlechtliche Ehe überhaupt keine Regelung treffen wollten, zumal diese ja sogar einen höheren rechtlichen Stellenwert hat als die eingetragene Partnerschaft, ist die einzig plausible, denkmögliche und aufgrund der Entstehungsgeschichte der Richtlinie und der diesbezüglichen Dokumente des Parlaments und des Rats auch einzig nachvollziehbare Schlussfolgerung die, dass der Begriff „Ehegatte“ unter a) den gleichgeschlechtlichen Ehegatten mit einschließt. Hätten Parlament und Rat den gleichgeschlechtlichen Ehegatten von der Anwendung dieser neuen Richtlinien ausschließen oder – wie unter b) – dessen Anerkennung auf den Fall beschränken wollen, dass der Aufnahmemitgliedstaat die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet hat, hätten sie die Möglichkeit gehabt, dies explizit zu tun. Haben sie aber nicht!
Aus der Formulierung der neuen Richtlinie lässt sich weiters die einzig mögliche Schlussfolgerung ableiten, dass auch der Begriff „Ehegatte“ in der jetzt geltenden Verordnung 1612/68 bereits den gleichgeschlechtlichen Ehegatten mit umfassen muss, da ja keine Definitionsänderung erfolgte. Hätten Parlament und Rat den Begriff des „Ehegatten“ erst mit der neuen Richtlinie auf gleichgeschlechtliche Ehegatten ausdehnen wollen, hätten sie logischerweise den Begriff „Ehegatte“ in der neuen Richtlinie ausdrücklich als „Ehegatte verschiedenen und gleichen Geschlechts“ näher definieren können.
Parlamentarische Anfrage
ULRIKE LUNACEK, außenpolitische Sprecherin und Abgeordnete der Grünen, richtete am 15. 10. auch eine schriftliche Anfrage in dieser Sache an die Außenministerin (2216/J). Ursula Plassnik führte in ihrer Antwort (2184/AB) aus: „Da der Umfang des Begriffes ‚Familienmitglieder‘ weder durch völkerrechtliche Normen noch durch eine einheitliche Staatenpraxis festgelegt ist, kann sich eine Interpretation dieses Rechtsbegriffes nur an der geltenden Rechtslage im Empfangsstaat orientieren. Vor diesem Hintergrund ist der Familienbegriff des § 44 ABGB maßgebendes Entscheidungskriterium für die Frage, welche Personen unter den Begriff ‚Familienmitglieder‘ fallen. Danach können nach derzeit geltender österreichischer Rechtslage weder gleichgeschlechtliche PartnerInnen, noch verschiedengeschlechtliche PartnerInnen außerhalb der Ehe, noch PartnerInnen einer (in anderen Kulturkreisen möglichen) aufrechten zweiten oder weiteren Ehe als ‚Familienmitglieder‘ von in Österreich akkreditierten DiplomatInnen betrachtet werden.“
Auf die Frage, ob – und gegebenenfalls wie viele – diesbezügliche Anfragen es seitens ausländischer Botschaften bzw. ausländischer DiplomatInnen gegeben habe, antwortete Plassnik, derartige Anfragen habe es bereits gegeben, wenn auch nicht zahlreich. Auch die HOSI Wien erhielt vom Außenministerium ähnliche Antworten auf ihr Schreiben vom 28. 8. und weitere Briefe, die sie wegen der ersten unbefriedigenden Antworten nachgeschickt hat.
Nachträgliche Anmerkung:
Über den Ausgang des Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof berichtete ich dann in der LN-Ausgabe 5/2006, S. 10.