Requiem für Sarajewo?
VANJA CHRISTIAN HAMZIĆ ist Künstler und Schwulenaktivist aus Sarajewo. Er ist Mitbegründer der bosnisch-herzegowinischen Queer-Organisation Udruženje Q und Mitinitiator von SEE Q (Southeastern European Queer Network of LGBTIQ activists from former Yugoslavia), einem Netzwerk, dem derzeit 20 LSBT-Organisationen im ehemaligen Jugoslawien angehören. Vanja rückte als Ersatzmitglied auch auf den freigewordenen Vorstandsposten im europäischen Lesben- und Schwulenverband ILGA-Europa nach, als MAXIM ANMEGHICHEAN aus Chișinău – wie berichtet (vgl. LN 4/2005, S. 26 + 28) – per 1. September vom Vorstand in ein Angestelltenverhältnis im Brüsseler ILGA-Europa-Büro wechselte. Auf der Pariser ILGA-Europa-Konferenz (siehe S. 21 in diesem Heft) wurde Vanja wiedergewählt.
Die drei Sommermonate Juli, August und September verbrachte Vanja als „Artist in Residence“ in Wien. Unter 700 BewerberInnen wurde er für ein Stipendium dieses von KulturKontakt Austria geförderten Programms ausgewählt – er gewann dabei sogar den ersten Preis. Vom 23. bis 27. September 2005 wurden die im Rahmen seines Wien-Aufenthalts entstandenen Werke gemeinsam mit jenen seiner drei „Artist in Residence“-KollegInnen in der Galerie wienstation im 8. Bezirk gezeigt.
Vanja präsentierte die Installation know_ where – mehr dazu im anschließenden Interview mit dem Künstler – und die Videoarbeit Meiuqer. Bei letzterer lässt er die Aufzeichnung des berühmten Konzerts, das 1994 im zerstörten Rathaus der belagerten Hauptstadt Bosniens aufgenommen wurde (Dirigent: Zubin Mehta, Sänger u. a. José Carreras), rückwärts ablaufen – daher auch der Titel: „Requiem“ von hinten nach vorne gelesen. Die in die Konzertübertragung geschnittenen Filmsequenzen über das Leid der Menschen und die Kriegszerstörungen rühren an: Der Rückwärtslauf macht möglich, was in der Realität leider unmöglich ist: Da werden brennende Häuser wieder intakt, Bombenexplosionen „implodieren“ quasi, und die Menschen, die durch die berüchtigte Heckenschützen-Allee um ihr Leben laufen, bewegen sich im Rückwärtsgang an den Ausgangspunkt zurück, als ob sie nie wieder auf die Todesstrecke starten würden. Ja, wie schön wäre es doch, könnte man die Zeit zurückdrehen und die Katastrophe ungeschehen machen!
Verblüffend übrigens, wie Mozarts „Requiem“ auch von hinten nach vorn gespielt funktioniert. Vanjas minimalistische Bearbeitung des Videos beschränkt sich darauf, das Logo des staatlichen Fernsehens TV BiH in der linken oberen Bildschirmecke durch das Logo des mittlerweile entstandenen kommerziellen, für sein Trash-Programm berüchtigten TV-Senders Pink BH (kein schwul/lesbisches TV!) in der rechten oberen Ecke zu ergänzen, aber damit ist auch schon alles gesagt: Das kulturelle Vakuum, das der Krieg hinterlassen hat, füllt sich gnadenlos mit Kommerz und Konsum, die leidgeprüften und vom Krieg abgestumpften Menschen haben dem wenig entgegenzusetzen. Der Krieg hat sie ihren eigenen Traditionen und Wurzeln entfremdet.
Auch in seiner Installation know_where greift Vanja soziale Phänomene auf. Während seines Wienaufenthalts führte er Interviews mit Menschen aus Ex-Jugoslawien und suchte in weiterer Folge Minderheiten in dieser Minderheit. Die Arbeit setzt sich mit der kulturellen, ethnischen oder sexuellen Zugehörigkeit zu einer Gruppe sowie dem Umgang des Individuums damit auseinander. In Wien kam Vanja in Kontakt mit vielen Lesben, Schwulen und Transgender-Personen der ex-jugoslawischen Diaspora. Mit 20 von ihnen – darunter auch solche, die sich als „queer“ verstanden – führte er Interviews, aus denen er markante Aussagen über ihre Situation für seine Fotoinstallation auswählte. Es wurden nur die Augenpartien der Interviewten fotografiert, sie blieben auch anonym, was einerseits künstlerische Absicht war – die Interaktion zwischen den Interviewten, dem Künstler, dem Kunstwerk und den BetrachterInnen sollte dekonstruiert werden –, andererseits wollten die Interviewten, die ihr Coming-out meist nicht einmal innerhalb der Familie gehabt haben, anonym bleiben. Die unter den Fotos mit den Augenpartien montierten Aussagen wurden zudem ins Englische übersetzt, was den Verfremdungseffekt verstärkte, aber auch einen linguistischen Grund hat: Die Grammatik der bosnischen Sprache erfordert, dass man sich beim Sprechen in der Ich-Form für ein Geschlecht – männlich oder weiblich – entscheidet, was für Transgender-Personen natürlich ein zusätzliches Problem schafft. Bei den Interviewten handelt es sich vorwiegend um in Wien geborene Kinder aus Einwandererfamilien sowie um Personen, die – zum Teil als Kinder oder Jugendliche – während der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre mit ihren Eltern nach Wien kamen.
LN: Wie bei deinem Videoprojekt „Meiuqer“ geht es auch bei deiner Fotoinstallation „know_where“ um Entwurzelung und Entfremdung. Was für mich beim Lesen der Statements der von dir interviewten Personen am augenfälligsten war, war diese ambivalente, ja fast schon schizophrene Haltung zur eigenen Familie. Einerseits kommen darin sehr stark der Wunsch und das Bedürfnis nach Geborgenheit in der Familie zum Ausdruck, andererseits fürchtet man – vielleicht zu Recht – ganz stark, aus dieser ausgestoßen zu werden, wenn man ihr gegenüber als lesbisch, schwul oder transgender herauskommt. Irgendwie ist diese starke Sehnsucht nach der Familie schwer nachvollziehbar, da sie doch die Hauptursache für das eigene Unglück darstellt. Für die meisten Lesben und Schwulen, die ich kenne, war der Bruch mit ihrer verständnislosen und engstirnigen Herkunftsfamilie eher ein Akt der Befreiung.
Vanja Hamzić: Ja, aber das ist sehr spezifisch für die Mentalität auf dem Balkan. Familie hat einen sehr großen Stellenwert in der Gesellschaft, das ist heutzutage fast schon zu einem Markenzeichen geworden. Es gibt einfach viel mehr Nähe. Und die Leute vermissen das noch viel mehr in einer Situation wie jener, in denen sich meine InterviewpartnerInnen befinden. Viele von ihnen haben auch die Kälte der Stadt und der Menschen angesprochen, die sie hier in Wien spüren. Aber es stimmt schon: Es ist ambivalent. Einer der Interviewten, ein 18-Jähriger, der im Alter von zwei Jahren nach Wien kam, mit dem ich Englisch gesprochen habe, weil er seine bosnische Muttersprache schon verlernt hat, erzählte von dieser Warmherzigkeit, die er bei Besuchen in dem bosnischen Dorf, aus dem seine Familie stammt, erfahren hat; alle haben sich um ihn gekümmert, ihn ständig umarmt und geherzt – während er sich in Wien immer noch verloren fühlt, obwohl er hier aufgewachsen ist. Mit dem Dorf in Bosnien verband er diese Vorstellung, wie es sein könnte, geborgen und aufgehoben zu sein und sich zugehörig zu fühlen. Aber natürlich übersehen sie dabei, wie es wäre, wenn sie dort als Homosexuelle herauskämen. Sie würden das ganze Weltbild der Leute in Frage stellen, und die Reaktionen darauf wären sehr stark und dramatisch. Und viele halten ja dann auch diese totale Ablehnung, die ihnen entgegenschlägt, nicht aus und begehen Selbstmord.
Logische Konsequenz wäre doch, sich eine „Ersatzfamilie“ in der lesbisch-schwulen Community zu suchen. Passiert so etwas in Wien? In der Lesben- und Schwulenbewegung, auch in der HOSI Wien, in der immer relativ viele MitarbeiterInnen nichtösterreichischer Herkunft aktiv gewesen sind, haben sich eigentlich nie Leute mit ex-jugoslawischem Hintergrund engagiert.
Es leben ja rund 300.000 Menschen aus Ex-Jugoslawien in Wien, und natürlich auch sehr viele Lesben, Schwule, Transgenders und Queers. Wie überall ist es aber so, dass es ein paar Leute braucht, die das Engagement und die Erfahrung mitbringen und die Initiative ergreifen. In den Ländern Ex-Jugoslawiens gab es diese Initiativen inzwischen, und etliche Gruppen sind entstanden. In Wien noch nicht. Was es aber inzwischen hier gibt, sind die queeren Balkan-Partys. Was die Unterhaltung betrifft, geschieht etwas. Aber der politische Bereich fehlt noch. Aber man darf nicht vergessen, dass die meisten Lesben, Schwulen und Transgenders ja mit ihren Familien nach Wien gekommen sind und hier genau dieselben Probleme mit ihrem Coming-out haben wie „zu Hause“ auf dem Balkan. Aber natürlich ist es in der Großstadt viel einfacher, und die Situation der Leute ist auch viel unterschiedlicher. Die persönliche Emanzipation hängt sehr vom sozialen Status der Familie ab.
Ich habe den Eindruck gewonnen, es gibt zwei Gruppen. Die einen fühlen sich als ÖsterreicherInnen, für sie ist der Balkan inzwischen genauso exotisch wie Indien oder Spanien, aber natürlich sind sie sich im klaren darüber, dass sie einen anderen ethnischen Hintergrund haben wie die Mehrheitsbevölkerung. Die andere ist jene typische Einwanderergruppe, die versucht, sich eine schöne Ersatzheimat, ein Ghetto einzurichten, und vollauf damit zufrieden ist, unter sich zu bleiben, und dabei der alten Heimat wie einer Art verlorenem Atlantis nachhängt. Das gelingt auch relativ einfach, weil so viele Menschen aus Ex-Jugoslawien in Wien leben.
Es wäre aber sehr wichtig, wenn hier lebende Lesben, Schwule und Transgenders aus Ex-Jugoslawien sichtbarer würde, damit ihre „eigenen“ Leute sehen könnten, dass es sie auch unter ihnen gibt.
Wie ist eigentlich die Lage in Bosnien heute?
In den letzten zwei Jahren ist sehr viel passiert in Sachen Community und Selbstorganisation. Das hat mich selbst sehr überrascht. Die Dinge verändern sich sehr rasch zum Besseren. Aber hauptsächlich in Sarajewo, in den andern Städten – Mostar, Banja Luka usw. – ist es noch ganz anders. Das ist jetzt auch die Arbeit, die unsere Gruppe „Q“ in Angriff nehmen muss. Die Gesetzeslage ist ja okay, aber man muss die Leute dazu bringen, gegen die Diskriminierung, die ihnen widerfährt, rechtliche Schritte zu setzen. Dabei unterstützen wir sie. Das Hauptproblem für die Leute ist aber die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage, die für viele junge Leute deprimierend und ohne Perspektive ist.