Seite wählen
  1. Diverse LN-Beiträge
  2. Hans Christian Andersen 1805–1875

Hans Christian Andersen 1805–1875

Veröffentlicht am 10. März 2006
Aus Anlass des 200. Geburtstags von Hans Christian Andersen widmete ich dem dänischen Nationaldichter einen längeren Beitrag in den LN 2/2006, in dem ich auch sieben aktuelle Neuerscheinungen aus Anlass dieses Jubiläums rezensierte.

Hans Christian Andersen

Was für Österreich heuer W. A. Mozart ist, war im Vorjahr H. C. Andersen für Dänemark: Das Land feierte den runden Geburtstag eines seiner größten Söhne, wenn nicht überhaupt seines größten. Aus diesem Anlass erschienen auch im deutschen Sprachraum zahlreiche Biographien über H. C. Andersen (sprich übrigens: hoo see anners’n) und Neuausgaben bzw. Neuübersetzungen seiner Werke.

Ein Jahrhundert lang war die (Homo-)Sexualität des Nationaldichters das größte Tabu im ansonsten in sexuellen Dingen sehr aufgeschlossenen Land zwischen Nord- und Ostsee. Die ersten Aufsätze von Literaturwissenschaftlern aus dem Bereich der Lesben- und Schwulenforschung, die sich in den 1980er Jahren mit diesem Aspekt beschäftigten, wurden von der etablierten Andersen-Forschung heftig kritisiert. Heute ist die Auseinandersetzung mit Andersens ambivalenter Sexualität Standard und Teil jeder seriösen biographischen, aber auch literaturwissenschaftlichen Arbeit über ihn, ist sie doch keineswegs unbedeutend für das Verständnis seiner Werke. Liest man sie – und gerade auch seine bekanntesten Märchen – mit diesem Wissen im Hinterkopf, erschließen sich ganz neue Facetten und Betrachtungsweisen. Und so ist es mittlerweile fast schon Allgemeingut geworden, seine Märchenfiguren, wie das hässliche (Außenseiter-)Entlein, die amphibische zwischengeschlechtliche Meerjungfrau oder den falschgegossenen Zinnsoldaten unter diesem Aspekt zu analysieren.

Stellt sich also die Frage: Wie homo- bzw. bisexuell war HCA? Wilhelm von Rosen meinte schon 1980 in einem Beitrag in der Zeitschrift Anderseniana, diese Frage sei falsch gestellt, denn zu Andersens Lebzeiten gab es noch keine „homosexuelle Identität“, wie wir sie heute kennen.1 Das Wort „homosexuell“ war ja noch gar nicht „erfunden“. Übrigens gibt es einen spannenden Aufsatz des dänischen Soziologen und Schwulenforschers Henning Bech [1945–2019] über Andersens Zusammentreffen mit Karl Maria Kertbeny, dem „Erfinder“ des Wortes „homosexual“, am 1. September 1860 in Genf, das HCA völlig aufgewühlt zurückgelassen hat, wie aus seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen jener Tage hervorgeht.2 Bech spekuliert, Kertbeny habe HCA mit dessen Homosexualität konfrontiert, aber was wirklich geschah, wissen wir nicht.

Wiewohl HCA in seinen Tagebüchern über sein (Sexual-)Leben genaueste Aufzeichnungen, ja geradezu Buch führte – er verwendete eigene Geheimzeichen, um Erektion, nächtlichen Samenerguss und Masturbation zu dokumentieren –, so finden sich weder zu Kertbeny noch zu anderen Personen irgendwelche Hinweise auf sexuelle Kontakte. Auch nicht in Bezug auf Personen, in die er offenkundig verliebt war. Seine Biographen ziehen daraus den Schluss, dass HCA seine Sexualität nie mit einem anderen Menschen ausgelebt hat, weder mit Frauen noch mit Männern. Bordelle, die er während seiner vielen Reisen in Neapel und Paris aufsuchte, soll er unverrichteter Dinge wieder verlassen haben. Er werde sterben, „ohne auf die Stimme des Blutes gehört zu haben“, notierte HCA 1863, was seine Biographen als weiteren Hinweis auf seine Jungfräulichkeit werten. Dennoch ist es nicht wirklich völlig nachvollziehbar, warum sie in dieser Hinsicht nicht skeptischer sind und hinterfragen, ob HCA hier möglicherweise seinen Tagebüchern doch nicht die letzten Wahrheiten anvertraut und damit der Nachwelt hinterlassen hat. Jedenfalls gehen die im Vorjahr (auf deutsch) erschienenen Biographien auf diese Thematik ausführlich ein:

∆ Die ultimative HCA-Biographie ist jene seines Namensvetters Jens Andersen (nicht verwandt; Andersen ist einer der häufigsten Familiennamen in Dänemark; zehntausende Menschen heißen so), die 2003 im Original und 2005 in der hervorragenden Übersetzung von Ulrich Sonnenberg erschienen ist. Das 800 Seiten starke Werk zeichnet das Leben und Werk von HCA in all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit nach und enthält zahlreiche Illustrationen und Abbildungen. HCA war nicht nur Märchendichter, sondern schrieb Theaterstücke, Romane, Gedichte, Reiseberichte; er zeichnete, malte und war für seine komplizierten Scherenschnitte berühmt. Er schuf z. B. auch eine Übersetzung und Nachdichtung von Ferdinand Raimunds Der Verschwender.

Bei Jens Andersen erfahren die LeserInnen auch detailreich über HCAs Gefühlsleben, über seine romantischen Schwärmereien für Männer, etwa für seinen lebenslangen Freund Edvard Collin, Sohn seines Förderers in jungen Jahren, als HCA seine Schul- und Ausbildung nachholte und seine Karriere am Anfang stand, oder später, als gefeierter Dichter, für Erbgroßherzog Carl Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, einen feinsinnigen Förderer der Künste, der seine Residenz in Weimar zu einem Zentrum der europäischen Kultur machen wollte und an dessen Hof HCA häufiger Gast in den 1840er Jahren war. Auch für Edvards Sohn Jonas hegte HCA innige Gefühle, wiewohl er über dessen abweisende Art während einer gemeinsamen Spanienreise schwer enttäuscht war. Die Familie Collin, die Andersens Nachlass verwaltete, scheint im übrigen nicht ganz unschuldig daran zu sein, dass womöglich „kompromittierende“ Dokumente nicht erhalten geblieben sind. Jens Andersens Biographie ist ein faszinierendes Buch über den Dichter, das viele detailreiche kultur- und zeitgeschichtliche Einblicke ins 19. Jahrhundert gewährt – absolut empfehlenswert.

∆ Wer sich nicht auf diese umfangreiche Darstellung einlassen möchte, kann dem dänischen Dichter auch auf 240 Seiten in Wolfgang Mönninghoffs großem HCA-Buch nachspüren. In zehn thematisch geordneten Kapiteln wird ebenfalls ein umfassender Einblick in Leben und Werk gegeben. Sie widmen sich u. a. Andersens Jugend, seinen Reisen, Märchen, dem Ruhm und der Liebe, wobei auch Mönninghoff der Frage nach Andersens sexueller Orientierung nachgeht.

∆ Will man sich mit den wesentlichsten Daten und Fakten begnügen, greift man am besten zur – ebenfalls ausführlich bebilderten – Basis-Biographie von Gisela Perlet, die Leben und Werk des Dichters auf 140 Seiten übersichtlich komprimiert hat.

∆ Schriftstellerisch nähert sich hingegen der dänische Autor Stig Dalager HCA an. In Reise in Blau erzählt Dalager authentisch und bruchstückhaft kurze Episoden aus Andersens Leben nach, die er – optisch durch kursive Schrift abgesetzt – mit offenkundig in dichterischer Freiheit verfassten Flashbacks und Erinnerungsfetzen unterbricht, in denen er Andersen im Angesicht des Todes eigene Gedanken formulieren und fantasieren lässt, während sein Leben im Fieber- und Morphinwahn noch einmal an ihm vorbeizieht. Liest man Dalagers Roman parallel zu Jens Andersens Biographie, ergeben sich reizvolle und spannende Déjà-vu- bzw. eigentlich Déjà-lu-Erlebnisse.

∆ Erfreulich auch, dass wichtige Romane H. C. Andersens zum Jubiläumsjahr neu aufgelegt wurden, auch in Neuübersetzungen, wie Nur ein Spielmann. Dieser Roman lässt sich übrigens auch im Lichte der Diskussion über die „unterdrückte“ bzw. „versteckte“ Homosexualität Andersens als Schlüsselroman interpretieren, was auch in den letzten beiden Jahrzehnten in der Andersen-Forschung getan wurde. Naomi, die Protagonistin, wird durch sehr männliche Eigenschaften charakterisiert und daher mitunter als literarische Maskierung von Homosexualität gedeutet, wogegen sich Johan de Mylius in seinem Nachwort vehement wehrt – wie er überhaupt die in Mode gekommene „einseitige queer-Diskussion“ von Andersens Gesamtwerk bzw. einzelner Werke „kaum fruchtbar und auch nicht angemessen“ findet.

∆ Im Roman Die beiden Baroninnen (frühere Übersetzungen trugen den Titel Die zwei Baronessen) lassen sich ebenfalls autobiographische Züge erkennen, stammen die beiden Protagonistinnen doch wie HCA aus ärmlichen Verhältnissen, die den gesellschaftlichen Aufstieg schaffen, aber eine versteckte homosexuelle Thematik lässt sich darin nicht aufspüren. Sieht man, wie der Übersetzer Erik Gloßmann in seinem Nachwort feststellt, von der auffälligen Unfähigkeit des Autors ab, „Liebesbeziehungen zwischen Mann und Frau überzeugend zu gestalten“ – und ebenso vom Umstand, dass Andersen gerne starke, individuelle Frauen, intellektuelle Matronen in seinen Romanen zeichnete, die Dornen in den Augen der Normalität waren.

∆ Andersen hat auch ein großes lyrisches Werk hinterlassen, das rund eintausend Gedichte umfasst. Von Beginn an war er sowohl in Skandinavien als auch im deutschsprachigen Raum als Lyriker mindestens genauso bekannt wie als Märchendichter, was merkwürdigerweise in Vergessenheit geraten ist. Im Andersen-Jahr ist nun ein Bändchen mit einer Auswahl bekannter und unbekannter Gedichte erschienen, die von Heinrich Detering übertragen wurden. Um auch Andersens lyrische Seite kennenzulernen, eignet sich dieser Gedichtband ausgezeichnet.

 

Fußnoten:

1 Wilhelm von Rosen: Venskabets mysterier. Om H. C. Andersens roman ”O. T”, hans forelskelse i Edvard Collin og ”Den lille Havfrues” forløsning, in Anderseniana, Band 3 (3), S. 167-214. Anderseniana ist eine Zeitschrift, die von Odense Bys Museer, den städtischen Museen von Odense, Andersens Heimatstadt, in Jahrbuchform herausgegeben wird und in der Fachartikel über H. C. Andersens Leben und Werk veröffentlicht werden.

2 Henning Bech: A Dung Beetle in Distress: Hans Christian Andersen Meets Karl Maria Kertbeny, Geneva, 1860: Some Notes on the Archaeology of Homosexuality and the Importance of Tuning, in: Jan Löfström (Hg.): Scandinavian Homosexualities. Essays on Gay and Lesbian Studies. Haworth Press, New York/London 1998, S. 139-161.

 

Besprochene Bücher:

Jens Andersen: Hans Christian Andersen. Eine Biographie. Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Insel-Verlag, Frankfurt am Main/Leipzig 2005.

Wolfgang Mönninghoff: Das große Hans Christian Andersen-Buch. Artemis & Winkler-Verlag, Düsseldorf/Zürich 2005.

Gisela Perlet: Hans Christian Andersen. Leben, Werk, Wirkung. Suhrkamp Basis-Biographie 3, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 2005.

Stig Dalager: Reise in Blau. Ein Roman über Hans Christian Andersen. Aus dem Dänischen von Heinz Kulas. Arche-Verlag, Zürich/Hamburg 2005.

Hans Christian Andersen: Die beiden Baroninnen. Roman in drei Teilen. Aus dem Dänischen von Erik Gloßmann. ars vivendi verlag, Cadolzburg 2005.

Hans Christian Andersen: Nur ein Spielmann. Roman. Aus dem Dänischen von Bernd Kretschmer. Mit einem Nachwort von Johan de Mylius. S. Fischer-Verlag, Frankfurt/Main 2005.

Hans Christian Andersen: Landschaft mit Poet. Gedichte. Ausgewählt und übertragen von Heinrich Detering. Dänisch/Deutsch. Wallstein-Verlag, Göttingen 2005.