Beitrag in der Zeitschrift Glocalist Magazine Nr. 9
Welche gemeinsamen europäischen Werte?
Die gegenwärtige Identitäts- oder gar Sinnkrise der Europäischen Union und die zunehmende Frustration der Bevölkerung über „Brüssel“ spiegeln sich fast paradigmatisch auch in schwul/lesbischen Fragen wider, wenn auch teilweise unter anderen Vorzeichen.
Anhand dieses relativ kleinen und unbedeutenden Teilbereichs kann man gut erkennen, woran „Europa“ tatsächlich krankt: Es ist die Unfähigkeit der nationalen Politik, der Bevölkerung reinen Wein über die tatsächlichen Konsequenzen der jeweiligen EU-Politik einzuschenken.
Erschwerend kommt hinzu, daß sich Europas Regierungen über die angestrebten Ziele uneins sind und daher selber glauben, manche Entwicklungen aufhalten oder ihnen eine andere Richtung geben zu können. Die Konsequenz sind immer mehr faule Kompromisse – nicht zuletzt in der Absicht, in einer Art Salamitaktik die – vermeintlich – unwillige Bevölkerung oder auch Regierungen mit anderen Vorstellungen quasi schrittweise an die angestrebten Ziele heranzuführen. Und so entsteht für die Bevölkerung auch der Eindruck, EU-Entwicklungen kämen wie unaufhaltsame und unbeeinflußbare Naturereignisse daher. Dabei sind sie nur die logische, wenn auch mitunter späte Konsequenz des ersten Schrittes bzw. ersten faulen Kompromisses. Wenn sich die Fehleinschätzungen und faulen Kompromisse dann später als unhaltbar herausstellen, leidet nicht nur die Glaubwürdigkeit der Politik, sondern es verstärkt sich zwangsläufig auch die Frustration in der Bevölkerung, der man etwas ganz anderes eingeredet hat.
Ein wenig Rechtsgrundlage
Wenn es um die Definition der gemeinsamen Grundlage der EU, also um den kleinsten – bzw. eigentlich größten gemeinsamen Nenner – geht, werden oft die gemeinsamen europäischen Werte bemüht. Aber selbst bei der Frage, um welche Werte es sich da konkret handelt, scheint keine Einigkeit zu herrschen. Dabei nennt Artikel 6 EU-Vertrag in diesem Zusammenhang ganz eindeutig „die Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie die Rechtsstaatlichkeit“, wobei zu letzterer wohl auch die Gewaltentrennung zählt.
Artikel 7 EU-Vertrag sieht vor, daß gewisse Rechte eines Mitgliedsstaats ausgesetzt werden können, wenn alle anderen Regierungen einstimmig zur Auffassung gelangen, daß dieses Mitgliedsland gegen die Grundsätze des Artikels 6 verstößt. Daß dieser Fall praktisch nie eintreten wird, ist klar. Irgendein Land wird sich immer finden, das einem betroffenen Staat die Stange hält und einen einstimmigen Beschluß verhindert. Bis zum Antritt der ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung im Jahr 2000 war eine gegenseitige Überprüfung der Einhaltung dieser im Artikel 6 festgelegten Grundsätze auch nie Thema. Und seit dem Flop der gegen Österreich verhängten Maßnahmen, die indes bilateraler Natur waren und nicht auf Grundlage von Artikel 7 getroffen wurden, wird man sich auch nicht mehr die Finger daran verbrennen wollen.
Dabei wäre schon die Androhung eines Verfahrens nach Artikel 7 mitunter zweckdienlich und wirksam. Auch die Maßnahmen gegen die österreichische Bundesregierung im Jahre 2000 waren trotz ihrer Beendigung, ohne daß der Auslöser der Maßnahmen beseitigt wurde, letztlich ein Segen. – Ich möchte nicht wissen, wie sich die schwarz-blaue Regierung aufgeführt hätte, wäre sie nicht gleich zu Beginn unter Beobachtung der EU gestanden. Aber natürlich wären solche Maßnahmen gegen Silvio Berlusconi noch weitaus gerechtfertigter gewesen, bedenkt man, wie systematisch seine Regierung den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung untergraben hat.
Und auch jetzt müßte die EU Polen längst die Sanktions-Rute ins Fenster stellen angesichts der Verletzung primitivster Menschenrechte von Lesben und Schwulen in diesem Land, wo ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit immer wieder von den Regierenden in Frage gestellt und behindert wird. Selbst wenn man die politische Hetze mancher Regierungspolitiker noch als freie Meinungsäußerung durchgehen ließe, hätte man die polnische Regierung spätestens dann unter politische Quarantäne stellen müssen, als einer ihrer Minister – ohne sofort geschaßt zu werden – dazu aufrief, an Pride-Paraden teilnehmende Schwule zu verprügeln.
Homophobie
Wie schlimm es um die Achtung der gemeinsamen europäischen Werte bestellt ist, wenn es um die Achtung der Menschenrechte von Lesben und Schwulen geht, läßt sich schon allein am Umstand erkennen, daß sich das Europäische Parlament innerhalb von fünf Monaten zweimal, im Jänner und im Juni 2006, veranlasst sah, in entsprechenden Entschließungen die zunehmende Homophobie und auch Gewalttätigkeit gegen Lesben und Schwule – auch seitens von Regierungspolitikern – in der EU zu verurteilen.
Das Europäische Parlament ist in den meisten Fällen auch jene Institution, die die Ehre der EU rettet – gelegentlich tut es auch die Kommission. Der Rat hingegen versagt in dieser Hinsicht völlig. Der Grund dafür liegt aber nicht nur in den schlechten Erfahrungen mit den Maßnahmen gegen die österreichische Bundesregierung im Jahre 2000, sondern schlicht und ergreifend auch darin, daß die meisten Regierungen nicht frei von Schuld sind und nicht sehr glaubwürdig wirken würden, zeigten sie mit dem Finger auf andere Regierungen.
So mutete es wohl lächerlich und peinlich an, wiese etwa ausgerechnet der österreichische Ratsvorsitz Polen auf seine Verpflichtung hin, das Versammlungsrecht von Lesben und Schwulen zu achten – ausgerechnet Österreich, das sich 1995 selbst noch mit drei anti-homosexuellen Strafrechtsparagraphen (darunter einem Vereinsverbot) in die EU eingeschlichen hat und in Kärnten bis heute seinen verfassungsmäßigen Verpflichtungen gegenüber der slowenischen Minderheit nicht nachkommt! Da könnte man es der polnischen Regierung nicht verdenken, sagte sie zu Schüssel, er solle sich um seinen eigenen Kram zu Hause kümmern. Und solange außer vielleicht den nordischen mehr oder weniger alle Mitgliedsstaaten irgendeinen Dreck am Stecken haben, wird sich an dieser Maxime, eine Krähe hackt der anderen keine Auge aus, wohl nichts ändern.
Dennoch ist es gerade für die unterdrückten Gruppen in den EU-Mitgliedsstaaten wichtig, in der EU zu sein. Denn sie fühlen sich nicht allein. Sie können mit der Solidarität aus anderen EU-Ländern rechnen, und auch mit der Unterstützung eben des Europa-Parlaments.
In Ländern mit unterentwickelter Gleichberechtigung verbanden Lesben und Schwule daher immer schon große Hoffnungen mit einem EU-Beitritt, da sie sich – zu Recht – dadurch Verbesserungen ihrer Situation erwarteten. In der Hälfte der zwölf jüngsten Beitrittsländer (Rumänien und Bulgarien miteingerechnet) sind diese Verbesserungen schon vor der Aufnahme in die EU eingetreten, hatte diese doch unter Berufung auf die Kopenhagener Beitrittskriterien von den Ländern verlangt, sämtliche strafrechtlichen Sondergesetze – weil menschenrechtskonventionswidrig – noch vor einem Beitritt abzuschaffen.
Doch kaum beigetreten, haben viele Regierungen der neuen Mitgliedsstaaten in ihren Bemühungen nachgelassen. Offenbar haben sie rasch gemerkt, daß in der EU viel Wasser gepredigt, aber noch mehr Wein getrunken wird.
Zu den weiteren, unmittelbar auf die EU zurückzuführenden Verbesserungen für Lesben und Schwule zählt die 2000 beschlossene Rahmenrichtlinie 78/EG über die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf. Aufgrund dieser Richtlinie mußten alle 25 Mitgliedsstaaten entsprechende Bestimmungen gegen Diskriminierung in der Arbeitswelt u. a. aufgrund der sexuellen Orientierung in ihrem nationalen Recht verankern. Das war auch für Österreichs Lesben und Schwule die wesentlichste Errungenschaft, die sie der EU-Mitgliedschaft verdanken, denn ohne diese Richtlinie hätte die schwarz-blaue Regierung niemals solche Antidiskriminierungsbestimmungen erlassen.
Durch die Vertiefung der Union ergeben sich ebenfalls logische Langzeitfolgen, die wohl nicht alle Regierungen von vornherein mitgedacht haben. Der Umstand etwa, daß immer mehr Mitgliedsstaaten gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkennen, hat direkte Auswirkungen auf das Recht auf Freizügigkeit, einen der Grundpfeiler der EU und auch eines der wichtigsten Rechte der EU-BürgerInnen. Hier entstehen Probleme in erster Linie für Paare, wenn eine/r Drittstaatsangehörige/r ist und daher über kein eigenständiges Recht auf Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU verfügt. In der neuen Freizügigkeitsrichtlinie (2004/38/EG) hat die EU wieder einen ihrer typischen faulen Kompromisse geschlossen, weil sie sich nicht zur gegenseitigen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in der gesamten EU zumindest für den Zweck der Familienzusammenführung durchringen konnte. Vor allem die Staaten ohne Rechtsinstitute für gleichgeschlechtliche haben dabei gebremst. Diese Länder fürchten die Einführung der „Homo-Ehe“ durch diese Hintertür. Zu Recht, denn wenn erst einmal in diesem Teilbereich ein Land ausländische gleichgeschlechtliche Paare rechtlich anerkennt, ist es schwer zu argumentieren, warum inländischen Paaren dieselben und vielleicht auch noch andere Rechte verwehrt werden. Ein Horror also für die derzeitigen Regierungen in Polen, Österreich, Litauen oder Lettland.
Es muß jedem realistischen Politiker klar sein, daß trotz des Kompromisses über kurz oder lang diese Entwicklung nicht aufzuhalten sein wird. Dennoch führen manche Scheingefechte und tun so, als ließe sie sich noch verhindern. Und so werden auch hier am Ende alle frustriert sein: Die Lesben und Schwule sind es schon jetzt, weil die EU zwar die Anerkennung ausländischer Maturazeugnisse, nicht aber ausländischer Trauscheine verlangt. Die konservativen Gegner der „Homo-Ehe“ werden es dann sein, wenn sie merken, daß sich das Recht auf Freizügigkeit nicht einfach so willkürlich einschränken läßt.
Dabei wäre es gerade auch im schwul/lesbischen Bereich so einfach: Nähmten die Regierungen ihr Bekenntnis zu den gemeinsamen europäischen Grundwerten tatsächlich ernst, würde sich jede weitere Kontroverse über Pride-Paraden oder die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ohnehin erübrigen.