Norwegen: Auch Schwule unter den Opfern auf Utøya
Unter den 69 Menschen, die beim Massaker auf Utøya am 22. Juli getötet wurden, waren auch zwei offen schwule Aktivisten, die sich in der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF (Arbeidernes ungdomsfylking) engagiert hatten. Das jährliche Sommerlager auf der AUF-eigenen Insel im Tyrifjord, einem See in der Nähe von Oslo, ist Teil der Talente- und Nachwuchsschmiede der Arbeiterpartei und dient der politischen Schulung und Bildung der Parteijugend, wobei vielfältige Themen diskutiert werden.
Am Tag vor dem Massaker leitete die Parlamentsabgeordnete Anette Trettebergstuen etwa einen Workshop zu schwul-lesbischen Fragen. Auf Håvard Vederhus und Tore Eikeland, beide 21 und offen schwul, war man bereits innerhalb der Partei aufmerksam geworden. In den offiziellen Trauerreden wurden sie sogar namentlich als besondere Nachwuchstalente hervorgehoben. So wurde Eikeland von Ministerpräsident Jens Stoltenberg in dessen Ansprache im Osloer Dom am Sonntag nach den Attentaten als „einer unserer hoffnungsvollsten Jungpolitiker“ gewürdigt. Vederhus wiederum hatte sich innerhalb der lutherischen Staatskirche Norwegens dafür eingesetzt, dass nach der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eine neue Trauungsliturgie ausgearbeitet werde. Er forderte entweder eine gemeinsame neue Liturgie für sowohl homo- als auch heterosexuelle Paare oder eine eigene für gleichgeschlechtliche Paare.
Unglaubliches Glück hatte der 21-jährige Adrian Pracon, der dem Massenmörder dreimal begegnete und dreimal dem Tod entrann. Schwerverletzt, mit einem Schulterdurchschuss, überlebte er. Seine Erlebnisse schilderte er in etlichen internationalen Medien, Videos davon (auch auf englisch) können im Internet angesehen werden. Nach der Bombenexplosion in Oslo hatte er noch seine Mutter angerufen, die gerade in Polen auf Urlaub war, um sie zu beruhigen, sie solle sich keine Sorgen machen, er befinde sich am sichersten Ort der Welt… Seine Eltern stammen aus Polen, waren vor den Kommunisten geflüchtet, zuerst nach Österreich, dann zogen sie nach Skien in Südnorwegen weiter, wo Adrian und seine Schwester zur Welt kamen. Er sei in der Familientradition katholisch erzogen worden, erzählt er in einem Interview in der September-Ausgabe der norwegischen Lesben- und Schwulenzeitschrift BLIKK. Mitunter sei das schwierig gewesen, insbesondere, als er sein Coming-out hatte, aber jetzt sei das Verhältnis besser denn je. Pracon ist auch Vizevorsitzender der Abteilung des LSBT-Landesverbands LLH (Landsforeningen for lesbiske, homofile, bifile og transpersoner) für die Region Telemark.
Die Frage, ob er gläubig sei, verneint Pracon. Sicher mache er sich Gedanken, warum er an diesem 22. Juli gleich dreimal dem Tod entronnen sei, ob es Zufall, Glück oder ein Schutzengel gewesen sei. Gläubig sei er dennoch nicht. Sein Körper laufe immer noch auf der Ersatzbatterie, er schlafe nur die paar Stunden, in denen die Schlaftabletten wirken. Am 20. August kehrte er mit anderen Überlebenden an den Ort des Schreckens zurück. Das sei heftig gewesen, meint er, „um es mild auszudrücken“. Trotzdem sei es wichtig gewesen. Dadurch habe er die Ruhe gefunden, um mit der Aufarbeitung und Bewältigung des Erlebten zu beginnen: „Als wir da draußen gemeinsam auf der Insel standen, begannen wir alle spontan zu singen, das gab uns ein sehr, sehr tolles Gefühl – und Hoffnung für die Zukunft. Jetzt gehört Utøya wieder uns, und niemand wird uns die Insel wegnehmen können.“
Unverletzt von der Insel entkommen konnte Eskil Pedersen, der im Oktober 2010 als erster offen Schwuler in der AUF-Geschichte zum Vorsitzenden der Jugendorganisation gewählt worden ist. Der 27-Jährige ist ebenfalls fest entschlossen, engagierter denn je für die Ziele und Werte der AUF und der norwegischen Sozialdemokratie weiterzukämpfen – das sei man dem Andenken der Opfer schuldig. Pedersen hat dem ganzen Land ebenfalls mächtig imponiert, wie er unter übermenschlicher emotionaler Anstrengung seine Organisation durch diese mehr als extreme Situation geführt hat.