EGMR: Nichtlöschung von Verurteilungen nach § 209 StGB menschenrechtswidrig
Am 7. November 2013 veröffentlichte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg sein Urteil, wonach die von Österreichs Justiz verweigerte Löschung von Verurteilungen nach § 209 StGB aus dem Strafregister eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darstelle.
§ 209 sah bekanntlich eine höhere Mindestaltersgrenze von 18 Jahren für sexuelle Handlungen zwischen Männern vor, während sie – im Gegensatz dazu – für heterosexuelle und lesbische Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst 2002 wurde diese strafrechtliche Sonderbestimmung nach vier gescheiterten Anläufen endlich vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig und danach vom Nationalrat aufgehoben (vgl. LN 3/2002, S. 7 ff, und LN Special, S. IV ff). 2003 fand schließlich der EGMR – ebenfalls erst im dritten Anlauf –, dass § 209 StGB gegen die EMRK verstoßen habe (vgl. LN 1/2003, S. 11 ff).
Vier Betroffene wollten in der Folge die Löschung ihrer Verurteilungen nach § 209 StGB im Strafregister erwirken, sodass diese z. B. in einer Strafregisterbescheinigung nicht mehr aufscheinen. Die zuständigen Behörden sowie alle drei angerufenen Höchstgerichte in Österreich wiesen dieses Ansinnen indes ab, wobei sie sich auf juristisch spitzfindige Kompetenzen und Bestimmungen beriefen.
Die Weigerung des Innenministeriums, die Verurteilungen aus dem Strafregister zu löschen, wurde etwa vom Verfassungsgerichtshof bestätigt, denn es könne nicht die Angelegenheit der Strafregisterbehörde sein zu entscheiden, ob und in welchem Umfang bestimmte Verurteilungen aus dem Rechtsbestand (vor der ohnehin nach bestimmten Fristen automatisch eintretenden Tilgung nach dem Tilgungsgesetz) auszuscheiden seien. Dies sei allein Aufgabe der Gerichte, noch dazu, wo die Strafprozessordnung im § 363a ausdrücklich eine „Erneuerung des Strafverfahrens“ für den Fall vorsieht, dass „in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte eine Verletzung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (…) durch eine Entscheidung oder Verfügung eines Strafgerichtes festgestellt“ wird.
Allerdings stellte der Oberste Gerichtshof in diesem Zusammenhang fest, sich dabei an dieselbe Frist halten zu wollen, wie sie für eine Beschwerde an den EGMR gilt. Auch der EGMR nimmt eine Beschwerde nur dann an, wenn sie innerhalb von sechs Monaten nach der letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheidung eingebracht wird. Diese 6-Monatsfrist hatten aber alle vier Beschwerdeführer versäumt, weshalb der OGH ihre Anträge auf Erneuerung des Strafverfahrens ablehnte. Eine solche Frist ist auch insofern äußerst problematisch, als durch sie all jene Verurteilten von vornherein ausgeschlossen werden, deren Fälle selber in Straßburg gar nicht anhängig waren bzw. schon lange zurücklagen.
Eigentlich würde man in einem zivilisierten Rechtsstaat ohnehin erwarten, dass sämtliche Verurteilungen aufgrund einer später abgeschafften Strafbestimmung nicht mehr im Strafregister aufscheinen bzw. zumindest nicht in eine Strafregisterauskunft bzw. Strafregisterbescheinigung aufgenommen werden, was beispielsweise in Dänemark der Fall ist. Dabei sollte es auch völlig egal sein, ob eine strafrechtliche Bestimmung vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig (§ 209) oder im Zuge von zeitgemäßen Reformen vom Parlament aufgehoben worden ist (Totalverbot der Homosexualität, Abtreibungsverbot etc.).
Spitzfindigkeiten
Merkwürdigerweise macht der EGMR in dieser Frage einen Unterschied (Randnummer 78 des Urteils). Und so führt er langatmig aus, dass es dem normalen Lauf der Dinge entspreche, wenn Strafbestimmungen novelliert bzw. aufgehoben würden, um die Rechtsordnung dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Der bloße Umstand, dass eine Verurteilung auf einer Strafbestimmung beruht habe, die später aufgehoben worden sei, sei daher normalerweise irrelevant für die Evidenzhaltung oder Löschung der Verurteilung im Strafregister, da diese im wesentlichen eine historische Tatsache betreffe (Randnummer 79).
Die Sache verhalte sich aber ganz anders bei Verurteilungen nach § 209. Das Parlament habe diese Bestimmung aufgehoben, weil sie vom Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig befunden worden sei. Der EGMR habe ebenfalls festgestellt, dass § 209 eine Verletzung der EMRK darstelle (Randnummer 80). Der EGMR ist daher der Auffassung, dass der Gesetzgeber auf diesen besonderen Umstand im vorliegenden Fall differenziert reagieren hätte müssen – etwa durch eine „Ausnahme von der allgemeinen Regel“ in Sachen Löschung von Verurteilungen aus dem Strafregister (Randnummer 81).
Befremdliche Kindesweglegung
Diese Argumentation muss man sich allerdings auf der Zunge zergehen lassen: Der EGMR hat dabei offenbar völlig übersehen, dass die bis zur Reform der Straßburger Institutionen 1998 dem Gerichtshof vorgeschaltete und heute nicht mehr existierende Europäische Menschenrechtskommission 1992 (vgl. LN 3/1992, S. 28) sowie noch einmal 1995 (vgl. LN 4/1995, S. 25 ff) im § 209 StGB keine Verletzung der Menschenrechtskonvention sehen wollte und entsprechende Beschwerden als unzulässig abgewiesen hatte. Und dass auch der Verfassungsgerichtshof im Laufe der Geschichte vier Beschwerden gegen § 209 – nämlich 1986, 1988, 1989 und 2001 – zurück- bzw. abgewiesen hatte.
Beide Instanzen haben damit dem Nationalrat und den österreichischen Justizbehörden quasi bis 2002 einen Freibrief zur Beibehaltung und Weiteranwendung dieses Strafrechtsparagraphen ausgestellt! So erfreulich es ist, dass 2002 bzw. 2003 beide Institutionen spät, aber doch ihren Irrtum eingestanden bzw. ihre Meinung revidiert haben, so befremdlich muss es indes anmuten, dass der EGMR jetzt so tut, als trügen Straßburg und der VfGH keine erhebliche Mitverantwortung am Fortbestand des § 209 bis 2002!
So erfreulich es weiters ist, dass der EGMR durch die vorhin dargelegte argumentative Hilfskonstruktion offenbar versucht hat, die seinerzeitige Mitschuld am Weiterbestand des § 209 StGB wiedergutzumachen, sollte man sich davor hüten, das jetzige Urteil überzuinterpretieren und daraus abzuleiten, der EGMR verlange eine Rehabilitierung oder gar Entschädigung aller Opfer des § 209 oder gar des Totalverbots homosexueller Handlungen, das bis 1971 in Österreich bestand – eine aufrechte Forderung der österreichischen Lesben- und Schwulenbewegung –, wie manche Reaktionen auf das aktuelle Urteil insinuieren. So weit würde wohl der EGMR nicht gehen – und dafür scheint die EMRK auch überhaupt keine Grundlage zu bieten. Und zudem wurde, wie vorhin dargelegt, das Totalverbot ja im Zuge der gesellschaftlichen Reform aufgehoben und nicht, weil es zuvor als verfassungs- oder konventionswidrig eingestuft worden wäre, was der EGMR ja als besonderes Kriterium seiner jetzigen Entscheidung zugrunde gelegt hat.
Angesichts des juristischen Freibriefs zur strafrechtlichen Diskriminierung, den der VfGH bis 2002 und Straßburg bis 2003 ausgestellt haben, wäre es wohl mehr als merkwürdig, sollte die Republik Österreich wegen fehlender Entschädigung und Rehabilitierung im Sinne einer Verletzung der Menschenrechtskonvention verurteilt werden. Eine solche Entschädigung und Rehabilitierung muss daher in erster Linie eine politische Forderung bleiben, die vom Parlament unabhängig von irgendwelchen höchstgerichtlichen Urteilen umzusetzen ist!
Verklärung
Überhaupt mutet die Verklärung der Rolle des EGMR oder auch des VfGH in Sachen Durchsetzung schwul/lesbischer Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung, wie sie auch die unsäglichen Medienaussendungen etwa Marco Schreuders von den Grünen regelmäßig ausdünsten, mehr als unpassend an.
Der EGMR war sowohl bei der Aufhebung des Totalverbots homosexueller Handlungen als auch bei der Angleichung des Mindestalters keineswegs ein Vorreiter, sondern hinkte ganz im Gegenteil der europäischen Entwicklung ziemlich hinterher. Man braucht sich dazu nur die historischen Fakten in Erinnerung rufen:
Als 1997 in der Beschwerde Sutherland gegen das Vereinigte Königreich die höhere Altersgrenze für homosexuelle Beziehungen von besagter Menschenrechtskommission als Verletzung der EMRK qualifiziert wurde, verfügte nur mehr rund ein Drittel der Mitgliedsstaaten über derartige Bestimmungen im Strafrecht. Die Einstufung des EGMR, § 209 verstoße gegen die Menschenrechtskonvention, war schließlich längst überfällig, denn 2003 sahen von den damals 44 Mitgliedsstaaten des Europarats außer Österreich dann nur mehr drei weitere ein generell höheres Mindestalter für homosexuelle Beziehungen vor.
Und ähnlich war es bei der Frage des Totalverbots – auch hier stand der EGMR mit seiner Entscheidung nicht am Anfang sondern am Ende der Rechtsentwicklung. Als er 1981 in einer Beschwerde gegen das Vereinigte Königreich (endlich) urteilte, dass ein Totalverbot eine Verletzung der EMRK darstelle, verfügten nur mehr vier Europaratsmitglieder über ein solches Totalverbot. Pikanterweise war noch drei Jahre zuvor Liechtenstein anlässlich seines Beitritts zum Europarat 1978 ein Vorbehalt bei der Ratifizierung der Menschenrechtskonvention zugestanden worden, demzufolge das (von Österreich übernommene) Totalverbot ausdrücklich von der Anwendung der EMRK ausgenommen war. Das Fürstentum schaffte das Totalverbot 1988 schließlich „aus eigenen Stücken“ ab.
Soviel also zur Verklärung der Straßburger Menschenrechtsorgane als vermeintliche Vorkämpfer für die Menschenrechte von Lesben und Schwulen…
Eine detaillierte und umfassende „Abrechnung“ mit der Behandlung der Beschwerden gegen § 209er vor dem Verfassungsgerichtshof, wohl eines der unrühmlichsten Verfahren in dessen Geschichte, findet sich hier.
Das aktuelle Urteil des EGMR steht in englischer Sprache hier zum Download bereit.