Osteuropa: Homosexualität und ihre Feinde
Passend zur aktuellen Diskussion über Russland widmet die in Berlin erscheinende Monatszeitschrift Osteuropa ein ganzes Heft dem Thema Homosexualität in Osteuropa, wobei die Hälfte des 240 Seiten starken Bandes Beiträge zu Russland enthält. Diese befassen sich mit der Geschichte, mit Homosexualität in der russischen Literatur sowie aktuellen Themen. Ist die Lektüre der Bücher Anna Politkowskajas für ein tieferes Verständnis von Putins Russlands unerlässlich, so trägt dieser Band dazu bei, die aktuelle Situation von Lesben und Schwulen hinter den tagesaktuellen Medienberichte besser zu verstehen. Denn, und das zeigen die Analysen in diesem Heft sehr deutlich: Die russische Wirklichkeit war und ist auch in Sachen Homosexualität komplexer und vielschichtiger, als man aufgrund der mitunter eindimensionalen Nachrichten heutzutage meinen könnte.
Die Aufsätze sind detailreich und informativ und halten garantiert auch Neues für jene bereit, die nicht völlig ohne einschlägige Vorkenntnisse sind. Manchen mag etwa bekannt sein, dass Michail Kusmin mit Krilja (Flügel) 1906 den ersten Coming-out-Roman mit glücklichem Ausgang veröffentlicht hat, wenige dürften aber wissen, dass in den 1930er Jahre Frauen des „maskulinisierten Typs“ (etwa in den höheren Rängen der Armee) nachsichtig bis fasziniert betrachtet wurden. Manche von ihnen forderten schon damals ein Recht auf gleichgeschlechtliche Eheschließung. Und wenn der amtierende russische Kulturminister heute behauptet, es gebe nur Gerüchte, aber keine Beweise für Pjotr Tschaikowskis Homosexualität, so fände er hier die entsprechenden Fundstellen, etwa einen Brief von Pjotr an seinen – ebenfalls homosexuellen – Bruder und Biografen Modest Tschaikowski. Weniger bekannt dürfte auch sein, dass die Re-Kriminalisierung der Homosexualität unter Stalin nach 1934 – im Gegensatz zu Nazideutschland – nur zu wenigen Verurteilungen führte. Dieser Tatbestand betraf in den 1930er und 1940er Jahren höchstens 0,03 % aller Strafprozesse in der RSFSR.
Interessante zeitgenössische Debatten erschließen sich wiederum aus den Schriften Marina Zwetajewas. In seinem spannenden Aufsatz Masken des Begehrens versucht Ulrich Schmid sogar eine kulturphilosophische Erklärung der aktuellen Entwicklungen: Die sentimentalistische Darstellung gehört zu den literarischen Frühphänomenen einer Kultur, in der Homosexualität so lange tabuisiert wurde, dass sie kaum mehr als Kategorie des öffentlichen Diskurses existierte. Die aktuelle Gesetzgebung in Russland zielt im Kern auf eine Restauration dieses Zustands: Über Homosexualität darf nicht gesprochen werden, weil sie dadurch erst hervorgerufen wird. Letztlich äußert sich in diesem Projekt der Glaube an eine Sprachmagie, in der sich das Wort in Fleisch verwandeln kann.
Auch der berühmte, 2011 verstorbene Sozial- und Sexualwissenschafter Igor Kon (vgl. LN 2/2011, S. 25) ist in diesem Band mit einem Aufsatz aus 2007 vertreten. Er analysiert darin die Ursachen für die Homophobie im Land, zu der er auch Umfragedaten und statistisches Material liefert. Natalija Zorkaja schließt an Kons Analyse an und beschreibt die jüngsten Entwicklungen, also nach 2007, nämlich wie das autoritäre Regime Putins sich immer stärker „die xenophoben und homphoben Stimmungen des Pöbels geschickt zunutze“ macht, um die Aggression und Unzufriedenheit der Bevölkerung zu kanalisieren. Zwei interessante Beiträge befassen sich auch mit der Rolle der russisch-orthodoxen Kirche, wobei diese Rolle teilweise erstaunlich heruntergespielt wird.
Um noch die wichtigsten Beiträge des Bandes, die sich nicht mit Russland befassen zu erwähnen: Zwei beschäftigen sich mit der Geschichte der Bewegung in Tschechien sowie – äußerst detailreich – mit Homosexualität in der tschechischen Literatur. Tomasz Kitliński und Paweł Leszkowicz beleuchten Homophobie und Toleranz in Polen, wobei sie auch ANDRZEJ SELEROWICZ und die HOSI Wien wegen ihrer Rolle als Unterstützer der Bewegung in Polen in den 1980er Jahren erwähnen.