ACT UP Wien
In den USA und einigen europäischen Staaten hatten sich im Zuge der AIDS-Krise in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ACT-UP-Gruppen gebildet, die durch radikale und spektakuläre Aktionen auf politische Versäumnisse in der AIDS-Bekämpfung aufmerksam machten. ACT UP war der zum Akronym gewordene Schlacht- und Aufruf zum Handeln einer AIDS Coalition To Unleash Power.
In Österreich war die AIDS-Hilfe bekanntlich aus der Schwulen- und Lesbenbewegung hervorgegangen und von dieser mitgegründet worden (vgl. LN 4/1985, S. 5 f, sowie 1/1986, S. 24 ff – siehe dazu auch das Kapitel über mein Engagement im Kampf gegen AIDS). In Sachen AIDS-Prävention und AIDS-Arbeit waren daher die Anliegen und Interessen von Schwulen von Anfang an stark berücksichtigt. Und sie hatten dadurch auch bedeutenden Einfluss auf die AIDS-Politik generell. Es bestand – im Gegensatz zu anderen Ländern – kein Bedarf an einer radikalen Aktionsgruppe, um den Behörden und der Politik Beine zu machen.
Mitte 1990 kam die Österreichische AIDS-Hilfe (ÖAH) allerdings von mehreren Seiten unter Druck – allen voran durch ihren größten Subventionsgeber, der damals das Bundeskanzleramt war. Die Angriffe auf die ÖAH kamen auch von anderer Seite, u. a. aus einem Teil der schwulen Community. Auf die näheren Details will ich an dieser Stelle nicht eingehen (siehe Fußnote). Ein Jahr später, per Ende Juni 1991, war die ÖAH jedenfalls abgewickelt, ihre einzelnen Landesstellen wurden in die Unabhängigkeit entlassen und die Wiener Zentrale wurde aufgelöst.
Die Gründung von ACT UP Wien im Herbst 1990 war eine ausdrückliche Reaktion auf diese Angriffe auf die bestehenden ÖAH-Strukturen, wie es auch in einem Flugblatt von ACT UP Wien heißt (vgl. LN 1/1991, S. 23): Wir sind bestürzt über die politische Bewußtlosigkeit mancher Schwuler, die sich über die Schwierigkeiten der ÖAH schadenfroh die Hände reiben und denen dabei die Auswirkungen auf die Betroffenen völlig egal sind. Erklärtes Ziel der neuen Gruppe war die Unterstützung der ÖAH und jenes Teils ihrer MitarbeiterInnen, die den Verein nicht umbringen, sondern weiterführen wollten.
Pressekonferenz aufgemischt
Die erste große – und gleich sehr spektakuläre – Aktion fand am 19. März 1991 statt. Die ACT-UP-Aktivisten MICHAEL HANDL, FRIEDL NUSSBAUMER und PETER HAAS mischten die Pressekonferenz von Bürgermeister Helmut Zilk (1927–2008) im Rathaus auf. Sie protestierten gegen den damals akuten Notstand bei der stationären Versorgung von AIDS-PatientInnen in Wien: Von den 45 vorgesehenen Spitalsbetten für die rund 100 PatientInnen standen nur mehr weniger als 20 zur Verfügung. WALTRAUD RIEGLER und JOSEF GABLER waren zum Fotografieren mitgekommen, ich nahm unter den JournalistInnen Platz, um notfalls kritische Fragen zu stellen, und verfasste einen ausführlicher Bericht für die LN 2/1991, S. 25 ff (siehe auch Zeitreise-Eintrag hier).
Die ÖAH initiierte eine Unterschriftenaktion für die Erhaltung der AIDS-Station im Otto-Wagner-Spital auf der Baumgartner Höhe, heute Klinikum Penzing, und legte Unterschriftenliste an neuralgischen Punkten auf. ACT UP Wien unterstützte die Sache mit einer Postkartenaktion und produzierte gemeinsam mit der HOSI Wien die Vorlage dafür. Die Postkarte war zum Ausschneiden und Versenden auch in der erwähnten LN-Ausgabe abgedruckt.
Die Schließung der AIDS-Station auf Annenheim konnte verhindert werden – nicht zuletzt dank des engagierten Pflegepersonals.
Protest gegen HIV-Zwangstestung
Am 1. Juni 1991 trat die neue Regelung zur HIV-Testung an den Wiener Gemeindespitälern in Kraft. Sie war höchst umstritten, und es gab im Vorfeld großen Widerstand und Protest dagegen (vgl. LN 3/1991, S. 10 ff + S. 21 f). U. a. sprach sich die HOSI Wien am 2. Mai 1991 in einer Presseaussendung vehement gegen diese Maßnahme aus. Am Tag davor waren die AIDS-Missstände in Wien auch Thema auf der 1.-Mai-Demo über die Ringstraße, auf der neben der HOSI Wien auch ACT UP Wien als eigene Gruppe sichtbar mitmarschierte (vgl. Zeitreise-Eintrag hier).
Protestpostkarten
Eine weitere Postkartenaktion betraf ein Jahr später die ÖVP. Sie verzögerte und torpedierte die Strafrechtsreform. Die vier anti-homosexuellen Strafrechtsparagrafen waren immer noch nicht abgeschafft. Verstärkt machten HOSI Wien und ACT UP Wien auf den Zusammenhang zwischen Nichtdiskriminierung von Homosexuellen und effizienter AIDS-Prävention aufmerksam.
Die ÖVP hat Blut an den Händen!
Immer öfter störten AktivistInnen einschlägige Veranstaltungen, um auf diesen Zusammenhang hinzuweisen und von der ÖVP einzufordern, in diesem Sinn Verantwortung im Kampf gegen AIDS zu übernehmen und die gesetzliche Diskriminierung Homosexueller zu beenden. Leider mit geringem Erfolg. Der Schlachtruf Die ÖVP hat Blut an den Händen! zog sich dabei wie ein roter Blutfaden durch diese Proteste, die mir ein besonderes Anliegen waren. Ich bereitete alle mit vor und nahm auch an allen teil. Dabei mussten mitunter auch Verbündete vor den Kopf gestoßen werden. Die meisten hatten indes Verständnis für die Aktionen.
Die erste Intervention fand am 22. Mai 1992 bei einer halbtägigen Veranstaltung im Wissenschaftsministerium statt, bei der die Studie zu „Jugendsexualität und AIDS 1990/91“ präsentiert wurde. Durchgeführt wurde sie vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Gesundheitspsychologie der Frau im Auftrag des Wissenschafts- sowie des Gesundheitsministeriums. Während die beiden Hauptautorinnen Beate Wimmer-Puchinger und Christiana Nöstlinger und die beiden „zuständigen“ Minister Erhard Busek (ÖVP) und Michael Ausserwinkler (SPÖ) sowie Gunter Schmidt von der Abteilung für Sexualforschung der Universität Hamburg die Studie vorstellten, verteilten Aktivisten Flugblätter mit besagter Überschrift Die ÖVP hat Blut an den Händen und den Forderungen der HOSI Wien (siehe nebenstehendes Faksimile). In der Fragerunde nach der Präsentation und in der zwischendurch abgehaltenen Pressekonferenz sorgten die AktivistInnen dafür, dass der Aspekt Homosexualität und AIDS in der Diskussion nicht zu kurz kam (vgl. LN 3/1992, S. 31 ff).
Zwei Jahre später erschienen die Ergebnisse dieser Studie auch in Buchform. Bei der Präsentation der Publikation am 26. Mai 1994 verteilte ich abermals Die ÖVP hat Blut an den Händen!–Flugblätter (vgl. LN 3/1994, S. 22 f).
1994 wurde es für PolitikerInnen populär, sich auf AIDS-Benefiz-Veranstaltungen herumzutreiben. Auch für jene der ÖVP, was wirklich einen Tiefpunkt an Heuchelei darstellte. Das rief natürlich ACT UP Wien auf den Plan.
Die Gala-Premiere des US-Streifens Philadelphia im Wiener Apollo-Kino am 24. Februar 1994 war eine solche Veranstaltung. Den Ehrenschutz hatte ausgerechnet ÖVP-Obmann Erhard Busek übernommen. Der Vorsitzende jener Partei also, die Lesben- und Schwulenunterdrückung und damit die AIDS-Ausbreitung zu ihrem Programm gemacht hatte. Jener Partei, die – wie es schien – auch weiterhin wollte, dass AIDS-Informationsbroschüren beschlagnahmt und AIDS-HelferInnen mit Gefängnisstrafen bedroht werden. Eine solche Provokation schrie in der Tat nach einer Aktion. Leider erfuhr ich vom Umstand, dass hier Busek die Gelegenheit geboten wurde, sich als AIDS-Wohltäter aufzuspielen, erst am Tag der Filmpremiere und hatte daher keine Zeit mehr, ein Flugblatt zu basteln. Aber dann entdeckte ich noch einen Stoß alter Die ÖVP hat Blut an den Händen!-Flugblätter, die seinerzeit bei der vorhin erwähnten Präsentation der Studie „Jugendsexualität und AIDS“ am 22. Mai 1992 verteilt wurden. Diese Ladenhüter teilte ich dann ans Premierenpublikum aus.
Im Wiener Schauspielhaus wiederum gelangte in jenem Frühjahr Tony Kushners Theaterstück Angels in America zur Aufführung. Die Theater-Verantwortlichen hatten die nette Idee, 654 prominente ÖsterreicherInnen einzuladen, ebenso viele Engel zu zeichnen. Man hatte nämlich ausgerechnet, dass jeder 654. Österreicher HIV-positiv war. Nicht alle Eingeladenen zeichneten, aber der Engel-Rücklauf belief sich immerhin auf mehr als 200 Stück. Sie wurden am 7. April 1994 im Schauspielhaus zugunsten von AIDS-Hilfe-Organisationen versteigert. Die Aktion wurde indes durch den Umstand diskreditiert, dass auch ÖVP-Politiker und sogar der Salzburger Erzbischof Georg Eder (1928–2015), für den Homosexualität Missbrauch der Natur und AIDS die Strafe Gottes dafür war, eingeladen wurden, einen gezeichneten Engel beizusteuern. Auch diese Provokation konnte nicht hingenommen werden, und so trat ACT UP WIEN in Aktion und verteilte bei der Engel-Versteigerung erneut Flugblätter (siehe Faksimile). Über beide Aktionen berichtete ich ausführlich in meinem LN-Kommentar in der Ausgabe 2/1994 (S. 28 ff). Dort kann man das Faksimile übrigens besser lesen.
Am Welt-AIDS-Tag 1994 versuchte ÖVP-Bundesministerin Maria Rauch-Kallat, sich als Mitstreiterin im Kampf gegen AIDS aufzuspielen. Sie übernahm den Ehrenschutz über eine AIDS-Enquete im Bundesamtsgebäude in der Radetzkystraße, zu der das Europäische Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung geladen hatte und an der auch VertreterInnen des Buddy-Vereins und des Rosa Lila Tips teilnahmen. DIETER SCHMUTZER moderierte die Veranstaltung. Aktivisten von ACT UP Wien traten in Aktion und verteilten Flugblätter. Als Rauch-Kallat eines davon in die Hände bekam, drohte sie, ihre Eröffnungsrede nicht zu halten und die Enquete zu verlassen. Bernd Marin vom EZ konnte sie beruhigen. Von einem Aktionisten auf die ÖVP-Haltung angesprochen, wegen der es immer wieder zur Beschlagnahme von AIDS-Broschüren kam, meinte die Ministerin, dass jene Broschüre, die seinerzeit im Wiener Gemeinderat diskutiert worden war, zu Recht beschlagnahmt worden sei, weil sie pornografisch sei. Als sie daraufhin als „verdammte Heuchlerin“ bezeichnet wurde, verließ sie – begleitet von „Blut, Blut, Blut“-Rufen – den Festsaal (vgl. LN 1/1995, S 24). Später wurde Rauch-Kallat für die Rosa Lila Zitrone (1995) des Österreichischen Lesben- und Schwulenforums (ÖLSF) nominiert (vgl. LN 1/1995, S. 28 f).
ÖVP-freier Life-Ball
1995 schließlich forderte ACT UP Wien – gemeinsam mit der HOSI Wien – erstmals GERY KESZLER auf, für einen ÖVP-freien Life-Ball zu sorgen, und zwar in einem Schreiben am 30. Jänner 1995 (vgl. LN 2/1995, S. 26 f, sowie meinen Kommentar in den LN 3/1995). Bei der Life-Ball-Pressekonferenz am 7. April 1995 stellte ich übrigens Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier die Frage, ob die Anwesenheit von ÖVP-PolitikerInnen mit dem Anliegen des Balls vereinbar sei – was dieser bejahte: Man wolle auch jene nicht ausgrenzen, die selbst Lesben und Schwule ausgrenzen (vgl. LN 3/1995, S. 25 f).
Der ÖVP-kritischen Haltung von ACT UP Wien und HOSI Wien schloss sich ein Jahr später fast die gesamte Bewegung an. Dennoch konnte sich Keszler nicht dazu aufraffen, die zum Life Ball am 11. Mai 1996 eingeladenen ÖVP-PolitikerInnen wieder auszuladen. ACT UP Wien protestierte am Tag des Life-Balls vor dem Rathaus (vgl. meinen Kommentar in den LN 2/1996). Erst als die schwarz-blaue Regierung 2000 antrat, sollte es bei Keszler zu einem Umdenken kommen. Mehr dazu auch in meinem Blog-Beitrag vom 2. März 2020.
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahren wurde es dann still um ACT UP Wien. Der Anti-ÖVP-Aktionismus hatte seinen Höhepunkt im Bischofs-Outing 1995 gefunden. Durch die Abschaffung des Werbe- und Vereinsverbots (§§ 220 und 221 StGB) ein Jahr später (November 1996) fielen dann zwei der Gründe für die Agitation gegen die ÖVP weg. Ab 2000 wurde dann die HOSI Wien ohnehin wieder radikaler in ihrer Haltung zur ÖVP, die in dem Jahr eine Koalition mit der Haider-FPÖ eingegangen war. Die HOSI Wien schloss sich sofort der Widerstandsbewegung gegen Schwarz-Blau an.
Fußnote:
In den LAMBDA-Nachrichten haben ich und andere ausführlich über das Ende der ÖAH berichtet: # 3/1990, S. 27 ff + S. 75; # 4/1990, S. 9 ff; # 1/1991, S. 5 ff + S. 32 ff; # 2/1991, S. 23 ff; # 3/1991, S. 23 ff; # 1/1992, S. 42 ff + S. 47 ff; # 4/1992, S. 18 ff.