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Amnesty und die Schwulen

Veröffentlicht am 21. Juni 1982
Seit 1974 hat Amnesty International diskutiert, ob sie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgte Menschen in ihr Mandat aufnehmen soll. Erst 1991 hat sie diesen Schritt getan. In den LN 3/1982 habe ich erstmals über die internen Debatten bei AI berichtet. Etliche Artikel zu diesem Thema sollten folgen. Die HOSI Wien war später in jener ILGA-Arbeitsgruppe vertreten, die sich speziell um das Lobbying in dieser Frage bei AI kümmerte, und betrieb dieses vehement in Österreich.

Etliche sowjetische Dissidenten wurden wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Homosexualität eingesperrt, etwa Gennadij Trifonow (Геннадий Трифонов)...

...oder Viktoras Petkus oder...

...Sergej Paradschanow, für den 1982 eine internationale Protestkartenaktion im Stile von Amnesty International durchgeführt wurde –

– auch die HOSI Wien beteiligte sich daran, ließ Postkarten drucken und verteilte diese. In den LN 4/1982 wurde die Postkarte auch zum Ausschneiden und Weiterverwenden abgedruckt.

Später wurde Paradschanow rehabilitiert. Zu seinem 75. Geburtstag gab die armenische Post 1999 sogar einen Briefmarkenblock zu seinen Ehren heraus.

September 1982 wird möglicherweise ein bedeutendes Datum für sowohl die Gefangenenhilfsorganisation und Friedensnobelpreisträgerin Amnesty International (AI) als auch für Homosexuelle in aller Welt sein: Auf der 15. „Internationalen Ratstagung“ in Rimini wird AI vielleicht endgültig darüber entscheiden, ob sie Homosexuelle, die wegen ihrer sexuellen Orientierung eingesperrt sind, als Gewissensgefangene anerkennen wird oder nicht. Möglicherweise wird sich AI aber auch heuer wieder um eine Entscheidung in dieser innerhalb der Organisation seit 1974 laufenden Diskussion drücken.

Bereits auf der 7. Internationalen Ratstagung (IRT) von AI im dänischen Askov, 1974, wurde zum erstenmal die Frage, ob AI auch homosexuelle Gefangene betreuen soll, von der dänischen Sektion aufgeworfen. Auf der nächsten IRT in St. Gallen unterbreiteten die dänische und die schwedische Sektion einen Bericht mit Pro- und Kontra-Argumenten. Die Debatten zogen sich danach über Jahre hin, vor allem über die Frage, welche Kategorien von Homosexuellen betreut werden könnten. Auf der IRT 1977 in Bad Honnef beschäftigte sich zwar ein eigener Arbeitskreis mit der heiklen Frage, aber zu einer Entscheidung kam es nicht, weil der betreffende Entschließungsantrag vorerst an das Internationale Exekutivkomitee von AI verwiesen wurde. In Bad Honnef wurden jedoch die AI-Satzungen insofern geändert, als „Geschlecht“ in den Artikel 1 (a) der AI-Statuten aufgenommen wurde, die bereits „ethnische Herkunft, Hautfarbe oder Sprache“ enthielt und der definiert, welche Gefangenen für eine Adoptierung durch AI in Frage kommen.

1978 diskutierte man auf der IRT in Cambridge auf der Grundlage des erwähnten Entschließungsantrags weiter, der jedoch nur die Betreuung erwachsener Homosexueller vorsieht, die in Übereinstimmung mit ihrer sexuellen Orientierung mit anderen zustimmenden Erwachsenen sexuelle Beziehungen eingegangen sind und deshalb verurteilt wurden. Aber auch in diesem Jahr rang man sich zu keiner Entscheidung durch.

Erst im darauffolgenden Jahr im belgischen Löwen wurde ein erster Schritt in Richtung Anerkennung Homosexueller als Gewissensgefangene gemacht. In ihrer Entscheidung bestätigte die IRT, daß jede/r als Gewissensgefangene/r betrachtet werden könnte,

  1. der/die aufgrund seines/ihres Eintretens für homosexuelle Gleichberechtigung inhaftiert ist;
  2. der/die aufgrund von Anklagen wegen verbotener homosexueller Handlungen inhaftiert ist, man aber davon ausgehen kann, daß diese nur ein Vorwand ist, um sein/ihr Engagement für die Gleichberechtigung von Homosexuellen oder irgendeine andere politische Tätigkeit, die durch den Artikel 1 (a) der AI-Satzungen gedeckt ist, zu unterbinden.

Tatsächlich handelt es sich bei diesen beiden adoptierbaren Gefangenenkategorien um Fälle, die eher mit dem Recht auf Meinungsfreiheit zu haben und folglich keine neuen Grundsätze für AI darstellen.

Auf der IRT 1980 in Wien vertagte man das Thema erneut. Für die 14. IRT in Montreal 1981 bereitete Nic Klecker von der Luxemburger Sektion einen Bericht „Sexuelle Orientierung und AI-Mandat“ vor. Doch auch diese Ratstagung traf keine endgültige Entscheidung. Soweit der kurze historische Überblick über die Homosexuellendebatte innerhalb von Amnesty.

Die Hauptwiderstände einzelner nationaler Sektionen und Funktionäre liegen in der Angst begründet, das Ansehen, das die Friedensnobelpreisträgerin 1977 als unabhängige Gefangenenhilfsorganisation mit gewichtiger Stimme in internationalen Menschenrechtsfragen weltweit genießt, könnte durch die Anerkennung von Homosexuellen als Gewissensgefangene Schaden erleiden, sowie in der Befürchtung, die Arbeit von AI könnte beträchtlich zunehmen.

Andererseits war ein Argument für das ständige Hinauszögern einer definitiven Entscheidung der Mangel an dokumentierten Menschenrechtsverletzungen aufgrund der Homosexualität einer Person. Hier könnte natürlich die internationale schwullesbische Bewegung Abhilfe schaffen: Neben den bekannten Fällen kollektiver und individueller Unterdrückung von Homosexuellen, die jedoch nicht immer Gefängnisstrafen mit sich bringen, in den westlichen Industriestaaten und im Ostblock erreichen auch Meldungen von Menschenrechtsbrüchen an Homosexuellen in der dritten Welt gelegentlich die internationale Lesben- und Schwulenbewegung. So waren unter den 2000 unter Khomeini hingerichteten Menschen mindestens 25 Personen, die wegen ihrer Homosexualität getötet wurden; in Argentinien ist die Unterdrückung besonders schlimm; vor einiger Zeit erreichte westliche Gruppen ein Hilferuf aus Mosambik, wo lesbische Frauen in Umerziehungslager gesperrt wurden. Ein Totalverbot der Homosexualität gibt es selbst in Europa noch in vier Staaten: in Irland und Zypern; in Rumänien und in der Sowjetunion, wo es auch angewendet wird, besonders wenn sich Homosexualität mit Dissidenz paart, und wo Psychiatriemißbrauch an Homosexuellen nichts Ungewöhnliches ist (am bekanntesten wurden die Fälle von Gennadij Trifonow [1945–2011], Viktoras Petkus [1928–2012] und Sergej Paradschanow [1924–1990], der bereits 1997–77 wegen Homosexualität in einem sowjetischen Lager inhaftiert war und im Februar dieses Jahres erneut verhaftet wurde (vgl. Bericht auf S. 31).

Ein zweites Problem besteht in der Sprachregelung und damit in der Abgrenzung der neuen Gruppe. Würde man den Begriff „sexuelle Orientierung“ in die AI-Statuten aufnehmen, müßte Amnesty sich auch mit anderen sexuellen Minderheiten, wie beschäftigen – heißt es zumindest im AI-internen Bericht Nic Kleckers für die 14. IRT: Bei unserer Diskussion liegt das Problem darin, daß man (auch) den Pädophilen zu einer von Geburt oder „Natur“ aus sexuell orientierten Minderheit zählen kann, dessen Sexualverhalten (aber) ziemlich offensichtlich Mißbrauch und Gewalt impliziert.

Es scheint daher wahrscheinlich, daß ausdrücklich zustimmende erwachsene Homosexuelle – wenn überhaupt – als Gewissensgefangene anerkannt werden. Ob AI ein diskriminierendes Mindestalter berücksichtigen wird, ist nicht voraussehbar.

Die Grundlage für AIs Menschenrechtskonzeption bildet der UNO-Menschenrechtspakt. Und dort kommen Schwule und Lesben eben nicht vor. Andererseits kann es sich Amnesty kaum leisten, zu leugnen, daß das Recht des/der einzelnen auf das Ausleben seiner/ihrer Homosexualität ein Menschenrecht ist. Daher wird es sich AI auf Dauer auch nicht leisten können, sich zu weigern, Personen, denen man dieses Menschenrecht nicht gewährt, als Gewissensgefangene zu adoptieren. Denn es kann dem Ansehen von AI auf lange Sicht nur schaden, wenn AI ihre heuchlerische Doppelmoral in dieser Frage und somit ihre Abqualifizierung der Schwulen und Lesben als Menschen und Gewissensgefangene zweiter Klasse, um die sie sich nicht zu kümmern braucht, weiterhin aufrechterhält.

Was für ein Unterschied besteht denn zwischen jemandem, der wegen seines Glaubens, seiner politischen Ansichten oder seiner Hautfarbe inhaftiert ist, und jemandem, der wegen seiner Sexualität gefangen ist? Was macht ersteren wertvoller, würdiger für eine Betreuung durch die Gefangenenhilfsorganisation?

Es ist auch kein Geheimnis, daß es in den nationalen AI-Sektionen leider viele konservative Leute gibt. Bezeichnend dafür ist, daß Jeremy Thorpe [1929–2014], ehemaliger Parteiführer der britischen Liberalen, der angeklagt war, auf einen schwulen Freund einen Mordversuch verübt haben zu lassen, jedoch freigesprochen wurde, kurz nach seiner Ernennung wieder vom Posten des Vorsitzenden der britischen Sektion von AI zurückgetreten ist. Thorpe verzichtete laut Der Spiegel, weil ihn die Kleinlichkeit und Vorurteile solcher Leute überrascht hätten, „die angeblich für die Menschenrechte eintreten“.

Abschließend ein Ausspruch der AI-Aktivistin Barbara C. Sproul, die so trefflich meinte: Eine Organisation, die sich für die sogenannten „vergessenen Gefangenen“ einsetzt, muß zu allererst bei sich selbst nachschauen, wen sie vergessen hat.

 

Nachträgliche Anmerkung:

Die spätere Entwicklung in dieser Frage habe ich in meinem Blog-Beitrag vom 6. September 2021 zusammengefasst.