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  2. Leidartikel LN 2/1987

Wehret den Anfängen!

Erschienen am 10. April 1987

Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet von sozialdemokratischen Politikern droht heute den Schwulen die größte Gefahr seit Hitlers Zeiten. Begonnen hat es mit der Forderung des Klagenfurter Vizebürgermeisters Peterle, der Zwangstests für Ausländer forderte, die in Kärnten um Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung nachsuchen. Diese Forderung konnte im fremdenfeindlichen Klima Kärntens nur auf helle Begeisterung stoßen. Es dauerte dann auch nur zwei Tage, bis in den Medien ägyptische Zeitungskolporteure und jugoslawische Gastarbeiter als „AIDS-Risikogruppen“ noch vor den Homosexuellen, Fixern und Prostituierten genannt wurden. Eine in jeder Hinsicht atemberaubende Dynamik, die so manche idiotische Politikeräußerung nehmen kann. Doch hier  hat man sich auch ins eigene Fleisch geschnitten, mieden doch  daraufhin die Zeitungsleser die Kolporteure, der Verkauf ging zurück – müßten die Kolporteure nicht davon leben, man müßte über jedes weniger verkaufte Exemplar dieser ansteckend volksverdummenden Hetzblätter froh sein. Peterle wurde schließlich vom Innenministerium zurückgepfiffen, was in Kärnten die Anti-Wien-Stimmung anheizte. Mit rationalen Argumenten war aber nichts mehr zu machen: Für Peterle und das Kärntner Volk sind die Ausländer schuld an AIDS. Aber nicht die arischen devisenbringenden Herrenmenschen-Urlauber aus dem Norden, sondern die Untermenschen aus dem Süden, die die Drecksarbeit im Lande machen. Warum man aber unbedingt in Kärnten leben und arbeiten muß, um jemanden zu infizieren, dies aber nicht als Tourist kann, ist eine Logik, die offenbar nur  einem Herrn Peterle zugänglich ist. Er  ist aber auch ein richtiger Saubermann: Schon 1983 sorgte er dafür, daß ein homosexueller SP-Gemeinderat in Klagenfurt zurücktreten mußte – denn: Die SPÖ muß sauber bleiben.

 

Wer ein Tschusch ist, bestimmen wir

Wer die Tschuschen sind, hängt aber sehr davon ab, auf welcher Seite der Grenze man sich befindet. Diese Relativitätstheorie lehrte uns kurz darauf Franz-Josef Strauß. Bayern will ja auch die Zwangstests für Gastarbeiter einführen, und für die Bayern sind die Österreicher die Tschuschen – und das sei uns und speziell den Kärntnern gegönnt. Hirnverbrannt ist das kleinstaatlerische Denken jedoch allemal. Als ob es nicht völlig schnurzegal wäre, ob zehn ausländische HIV-Infizierte aus Österreich deportiert und dafür zehn im Ausland lebende österreichische HIV-Infizierte heimgeschickt werden oder ob zehn infizierte Ausländer bei uns und dafür zehn infizierte Österreicher im Ausland wohnen bleiben dürfen. In einer Zeit, da sich millionenfach die Touristenströme quer durch Europa und über den Erdball wälzen, will man AIDS bekämpfen, indem man die niederlassungswilligen Ausländer testet! Wobei im Falle Bayerns noch hinzukommt, daß die Gefahr nur aus dem Nicht-EG-Raum kommt. Es ist wirklich eine Schande, welche Westentaschenpolitiker in Mitteleuropa das Sagen haben. Da gibt’s auch keine ideologischen Unterschiede. So kritisierte Bundeskanzler Vranitzky auch nicht, daß Strauß einen faschistoiden, aber nur begrenzt wirksamen (Bayern wird aidsfrei, weil die Risikopersonen auswandern) Maßnahmenkatalog durchsetzen will, der etliche Grundrechte außer Kraft setzt und eine seit 1945 nicht dagewesene Randgruppenhatz entfacht, nein, er empörte sich bloß, daß man uns in Bayern so behandelt, wie wir die Tschuschen!

Peterle ist aber nicht der einzige sozialdemokratische Politiker in Österreich, der beim erzreaktionären Strauß und seinem Gauleiter geistige Anleihen nimmt. Der Wiener Gesundheitsstadtrat Stacher wollte, offenbar in einem Anfall faschistischer Anwandlung, die Aufnahme von AIDS ins Seuchengesetz – wie es in Bayern heißt – durchsetzen. Was es bedeuten würde, wenn AIDS im Epidemiegesetz – wie es in Österreich richtig heißt – stünde,  ist in Helmuts ausführlicher Darstellung „Rechtsprobleme im Umgang mit AIDS“ (S. 39 ff)  in diesem Heft nachzulesen. Stacher blitzte jedenfalls mit dieser Forderung ab. Wie sich herausstellte, sollte dies nur dazu dienen, hunderttausendfach in seinem Verantwortungsbereich begangene kriminelle Handlungen im nachhinein zu legalisieren. Daß der gesamte Wiener Stadtsenat die Forderung unterstützte, zeigt nur, daß auch die anderen Parteien keine Ahnung haben.

Kriminelle Politiker

Was war passiert? Seit Herbst 1986 wurden und werden alle Patienten der Wiener Gemeindespitäler automatisch auf HIV-Antikörper untersucht. Dies geschieht mit dem Blut, das für die Lues-Serologie abgenommen wird. Die Patienten wurden weder vorher gefragt, noch wurde das Blut (wie bei wissenschaftlichen Studien üblich) anonymisiert. Das Ganze war und ist kriminell! Verantwortlich dafür ist Stacher, der Wiener Landessanitätsdirektor Junker, ein altersstarrsinniger Sozialdemokrat, Gott sei Dank kurz vor der Pensionierung, dessen demokratischer Bewußtseinsstand offenbar noch aus der Zeit von 1938 bis 1945 herrührt und der nicht einsehen will, warum man die Leute vorher fragen sollte, sowie der Stacher-Einflüsterer Doz. Gschnait vom Krankenhaus Lainz, bei dem alle Fäden dieser illegalen Testungen zusammenlaufen und der auch einen Großteil der rund 200.000 ungesetzlichen Tests in  seinem Labor durchgeführt hat.

Gschnait ist ein sozialdemokratischer Karrierist Marke Androsch, der sich – o Zufall – gerade in Mauerbach eine Villa baut. Die Frage, ob er noch andere als epidemiologische Interessen an dieser aberwitzigen Testerei hat, drängt sich auf. Jedenfalls scheint er von sozialdemokratischen Ideen, Zielen, Utopien, Grundwerten und Bestrebungen, wie sie einmal bestanden haben, noch weniger blassen Tau zu haben als Stacher.

Ein weiterer Skandal, für den Stacher verantwortlich ist, flog gleichzeitig auf: Alle Bewerber um einen Gemeindeposten sowie die Zivildiener bei der Gemeinde wurden und werden ohne ihr Wissen getestet!

Stachers hunderttausendfacher Rechtsbruch bleibt ohne Konsequenzen. Leben wir in einem Rechtsstaat? Oder gelten die Gesetze nur für Politiker nicht? Ist der normalsterbliche Staatsbürger auf Gedeih und Verderb ihrer Willkür ausgesetzt? Was ist das für ein Staat, in dem man nicht mehr Herr über seine Person ist, in dem man nicht mehr entscheiden darf, was mit einem passiert? Ein HIV-Antikörpertest ist eine zu wichtige Angelegenheit, um die Entscheidung, ihn zu machen oder nicht, den Gesundheitsbehörden zu überlassen. Ein Land, in dem der einzelne nicht mehr darüber entscheiden kann, ob er etwa eine Krebsuntersuchung oder einen HIV-Test machen läßt oder nicht, ist keine Demokratie mehr! Die Entscheidung, einen Test vornehmen zu lassen oder nicht, kommt einzig und allein der betreffenden Person zu!

Stacher gefährdet die Demokratie

Stacher hat in den Medien verschiedentlich seine Zwangstests verteidigt, ja sogar einen Gutachter gefunden, der ihm bescheinigt, es handle sich dabei um gar keine Zwangstests. Nun, sie erfüllen jedenfalls den Straftatbestand der Körperverletzung. Seine diversen Rechtfertigungen gehen aber am Kern der Sache vorbei: Entscheidend ist wohl die Frage, ob man in den Wiener Gemeindespitäler seine Persönlichkeits- und Menschenrechte beim Portier abgeben muß oder nicht! Wesentlich ist die Möglichkeit, daß man den Test ablehnen kann (und um das tun zu können, muß man informiert werden, daß er gemacht wird), wofür es sehr viele wichtige persönliche Gründe geben kann: Der Betreffende weiß bereits, daß er positiv ist, legt aber keinen gesteigerten Wert darauf, daß dieser Umstand in seine Krankengeschichte und diversen Spitalskarteien aufgenommen wird. Das Gesundheitsamt führt ja eigene Positivenlisten, die früher zumindest auch der Blutspendezentrale des Roten Kreuzes zur Verfügung gestellt worden sind, was einen ungeheuerlichen Bruch des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht darstellt. Verbrechen scheint aber für die Gemeinde Wien weder ein rechtliches noch ein moralischen Problem zu sein; der Betreffende will einfach nicht wissen, ob er positiv oder negativ ist, das muß doch verdammt noch einmal auch der mieseste Bürokrat wenn schon nicht verstehen, so doch zur Kenntnis nehmen und sich danach richten; der Betreffende will es noch nicht wissen, weil er vor Testvornahme z. B. noch eine Lebens- oder Krankenversicherung abschließen will. Ist er positiv, kann er sich die Versicherung in den Rauchfang schreiben, weil sie ihn dann nicht versichert. Verschweigt er es und kommt die Versicherung drauf (was ja leicht möglich ist, sobald irgendwo davon Unterlagen existieren), kann er die Versicherungsleistungen vergessen! Stacher greift also mit seinen heimlichen Tests in unerträglicher Weise in die Lebensplanung des einzelnen ein.

Stachers Aidsgate

Seit 23. 2.1987 ist durch Erlaß des Gesundheitsministeriums auch ausdrücklich und unmißverständlich die Rechtslage geklärt: Tests ohne Einwilligung des Patienten sind ungesetzlich, kriminell. Trotzdem werden in Wiens Spitälern und am Gesundheitsamt, wo die Stellenbewerber und Zivildiener untersucht werden, weiterhin heimliche Tests durchgeführt. Stacher und seine Ämter brechen also offen und wissentlich weiterhin das Gesetz, ohne daß ihm etwas geschieht. In jedem Rechtsstaat wäre längst, zumindest aber seit 23. 2., der Staatsanwalt tätig geworden, erfüllt die heimliche Testung doch den Tatbestand der Körperverletzung, die ein Offizialdelikt ist, gegen das die Strafverfolgungsbehörde ohne Antrag des Verbrechensopfers einschreiten muß.

Offensichtlich hat auch das Bundeskanzleramt (AIDS fällt ins Ressort von Kanzleramtsminister Löschnak) keine Handhabe, um der Gemeinde Wien ihr verbrecherisches Handwerk zu legen. („Sollen wir ihm [Stacher, Anm. d. A.] das Bundesheer schicken?“ fragte Ministersekretär Dr. Matzka hilflos auf der Podiumsdiskussion in der HOSI.) Hier erweist es sich als riesiger Nachteil, daß das Gesundheitsressort an den Kanzleramtsminister abgegeben wurde. Stacher, Arzt, Professor und Gesundheitsstadtrat des mächtigen Wiens, kann natürlich jetzt mit Löschnak Schlitten fahren, wie man so schön sagt, zumindest bis der Bundesminister halbwegs mit der Materie vertraut ist.

Der Stacher-Skandal zeigt deutlich die Mängel unserer Demokratie: Die Justiz versagt wie in vielen ähnlichen Fällen, in die Politiker verwickelt sind; die öffentliche Meinung sympathisiert mit dem Schlawinertum der Volksvertreter; die Medien nehmen ihre Aufgabe, Rechtsbrüche der Herrschenden aufzuzeigen und Konsequenzen zu fordern, viel zuwenig wahr; das politische System versagt, die Parteien schützen ihr kriminell gewordenen schwarzen Schafe in einer Art Kadavertreue.

Der Stacher-Skandal zeigt aber auch überdeutlich den erbärmlichen und trostlosen Zustand, in dem sich die abgewirtschaftete Sozialdemokratie heute befindet. Nicht einmal in den Jugendorganisationen stößt Stachers Aidsgate auf Kritik, geschweige denn auf Abscheu und Empörung – wo, bitte, bleibt der Aufschrei der Parteijugend? Fallen dem Cap angesichts hunderttausendfachen Patientenbetrugs und Rechtsbruches keine drei Fragen ein an den Genossen Adolf Stacher? Während sich in Bayern links von Gauleiter und Strauß (selbst in der CSU) eine breite Ablehnungsfront gegen die AIDS-Zwangsmaßnahmen (darunter Einstellungstests für Staatsdienstanwärter) formiert hat, scheinen sich hier die Genossen mit der städtischen Zwangsbeglückung und Bevormundung abzufinden.

Zynische Ärzte

Ein jämmerliches Bild gibt auch die Ärzteschaft ab. Sie fühlt sich offenbar weniger ihren Patienten verpflichtet als dem „Staat“, der Obrigkeit und natürlich ihrem Geldsack. Wie will sie das Vertrauen ihrer Patienten erringen, wenn diese ständig fürchten müssen, von ihren Ärzten hintergangen und beschissen zu werden. Statt aus ihrer ärztlichen Ethik heraus vehement gegen heimliche und erzwungene Tests aufzutreten, unterstützen sie auch noch diese illegale Vorgangsweise.

Daß Ärzte nicht unbedingt zur AIDS-Hilfe prädestiniert sind, zeigen zwei Beispiele: Da führt der Vizepräsident der steirischen Ärztekammer die vermehrte Ausbreitung von AIDS auf die Katalysatorautos zurück, und der Präsident der Wiener und Österreichischen Ärztekammer, Neumann, erklärt mit unüberbietbarem Zynismus, Infizierte gehörten schon deshalb behördlich registriert, damit sie verständigt werden können, sobald ein Medikament zur Verfügung steht. Diese Art des Medizinerzynismus haben die Infizierten und AIDS-Kranken so nötig wie eine Gabel im Arsch! Was einem von sogenannten Verantwortlichen und Offiziellen an Äußerungen zugemutet wird, ist einfach eine Beleidigung jedes halbwegs intelligenten Menschen. Unerträglich!

Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!

Traurig und deprimierend ist, daß sich kein Betroffener zur Wehr setzt, sondern sich alle diese totalitäre Bevormundung gefallen lassen. Es wird die Politiker garantiert zu noch mehr Dreistigkeit animieren, wenn sie jetzt auf keinen Widerstand stoßen. Heute die HIV-Tests für Risikogruppen, morgen die morgendlichen Harntests an den Arbeitsstellen für alle, um herauszufinden, wer trinkt oder illegale oder legale Drogen nimmt. Es gilt auch hier den Anfängen zu wehren, die unweigerlich wieder mit Konzentrationslagern enden werden. Stacher wird sich, schon heute wissen wir es, damit verteidigen, er habe ja bloß „seine Pflicht“ getan, und die anderen werden ja bloß seine Anordnungen (Befehle) befolgt haben!

Nie war Schwulenemanzipation so wichtig und wertvoll wie heute. Wir müssen uns massiv gegen jegliche Zwangsmaßnahme zur Wehr setzen, neue Formen des zivilen Ungehorsams und demokratischen Widerstands entwickeln. Lustvoll und kreativ. Und sofort, denn es wäre gefährlich, dem Abbau der Demokratie zu lange untätig zuzuschauen!

WEHRET DEN ANFÄNGEN!

 

 

Leidartikel LN 2/1987

Nachträgliche Anmerkungen

Meine Wortwahl und Diktion waren in jungen Jahren mitunter schon ziemlich krass. Auch für manchen meiner Vergleiche geniere ich mich heute. Die Bildunterschrift zu Stachers Foto, mit dem meine Kolumne illustriert wurde, lautete etwa: „Wiens Medizinal-Pinochet A. Stacher“. Und Alois Stacher (1924–2013) hieß natürlich nicht Adolf mit Vornamen!

Stachers Massen-Zwangstestungen waren sicherlich auch Ausdruck dieses absolutistischen Regierungsstils der SPÖ in Wien, den die HOSI Wien schon 1980 am Reumannplatz zu spüren bekommen hatte. Dabei hatte die Zusammenarbeit mit Stacher in Sachen AIDS 1983 mit der gemeinsamen Herausgabe der ersten AIDS-Informationsbroschüre in Europa sehr erfolgversprechend begonnen.

Die Fundamental-Kritik der HOSI Wien an der Politik und ihren AkteurInnen – ohne Ansehen der Person oder der Partei – war einerseits Ausdruck ihrer unbestechlichen Grundhaltung und andererseits dafür, vor nichts und niemandem Angst zu haben.

Gerade im AIDS-Bereich taten sich in den 1980ern Abgründe auf, die heute völlig unvorstellbar sind. Wer sich dafür interessant, sollte die LN aus diesen Jahren lesen.

Auf jeden Fall muss man der SPÖ heute zugutehalten, dass sie sich in diesen 40 Jahren total gewandelt hat, mit der Zivilgesellschaft in einen echten Dialog getreten ist, deren Anliegen ernst nimmt und auch aufgreift – im Gegensatz zur ÖVP und FPÖ, für die NGOs heute immer noch Feindbilder sind und deren Forderungen sie bestenfalls ignorieren.

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Mit Gauleiter ist natürlich der bayerische Politiker Peter Gauweiler gemeint. Das musste man damals den zeitgenössischen LeserInnen nicht extra erklären.

Wem die Anspielung auf die drei Fragen, die Josef Cap 1982 an den langjährigen burgenländischen Landeshauptmann Theodor Kery (1918–2010) gerichtet hat, nichts sagt, kann bei Interesse danach googeln.