Enttäuschung in Budapest
In den LN 4/1994, S. 52 f, haben wir bereits über die Lobbyarbeit der ILGA-VertreterInnen in der ersten Konferenzwoche (10. bis 14. Oktober) berichtet. Zusätzliche, nicht geplante Aktivitäten ergaben sich für uns durch einen üblen Polizeiübergriff auf Schwule in Tirana.
Am 15. Oktober – ich war am Abend zuvor aus Budapest gekommen – erreichte die HOSI Wien ein Fax aus Tirana. Wir sind, obwohl der Osteuropainformationspool (EEIP) der HOSI Wien vor über vier Jahren seine Tätigkeit beendet hat, eben immer noch wichtiger Kontaktpunkt für Osteuropa. In dem Fax berichtete der Gründer der informellen Schwulengruppe SGA (Shoqata Gay Albania) – vgl. LN 3/1994, S. 65 ff – über einen Zwischenfall, der sich in der Nacht zuvor in Tirana ereignet hatte (wir legten gerade letzte Hand an die LN-Ausgabe 4/1994, daher brachten wir diese Nachricht nur als kurze Meldung auf S. 49): Die Polizei hatte drei Mitglieder der Gruppe niedergeschlagen, eines war sogar bewußtlos und mußte mit gebrochenem Bein in Spitalsbehandlung, ein anderes war verletzt, aber in häuslicher Pflege, und ein drittes war zu dem Zeitpunkt, als das Fax geschickt wurde, noch in Polizeihaft, wurde aber später freigelassen. Die Polizei wollte von den drei Männern die Namen anderer SGA-Mitglieder und vor allem den Namen des Leiters der Gruppe erfahren. Sie wurden beschuldigt, einer illegalen Vereinigung anzugehören. Der Gründer der Gruppe bekam es mit der Angst zu tun und wollte – wie andere Gruppenmitglieder auch – nur weg und bat uns um eine offizielle Einladung nach Österreich, um das Land verlassen zu können.
Zwischenfall in Tirana
Umgehend faxten wir diese Information an SCOTT LONG, LN-LeserInnen durch Berichte über diverse ILGA-Missionen (z. B. nach Rumänien, vgl. LN 1/1994, S. 56 ff) kein Unbekannter mehr, der zur Zeit in Budapest arbeitet und uns bei der Lobbyarbeit auf der KSZE-Tagung unterstützen wollte. Wir baten ihn, in der darauffolgenden Woche in der Arbeitsgruppe III (Menschliche Dimension) ein Statement über diesen Polizeiübergriff abzugeben: Passenderweise stand der Punkt „Recht auf Versammlungs-, Vereins- und Meinungsfreiheit“ auf der Tagesordnung. Am 18. Oktober, nur dreieinhalb Tage nach dem Zwischenfall, hielt der ILGA-Vertreter eine Rede auf der KSZE-Tagung, in der er das Vorgehen der albanischen Polizei aufs schärfste anprangerte. Das war wirklich effiziente Arbeit, die ihre Wirkung auch auf die albanische Behörden nicht verfehlen sollte!
Scott verteilte auch ein Protestflugblatt an alle Delegationen und informierte das ILGA-Aktionssekretariat in San Franzisko. Dieses sandte eine internationale Presseaussendung aus. VOLKER BECK, Mitarbeiter des Schwulenverbands in Deutschland (SVD) und seit der Wahl im Oktober grüner Bundestagsabgeordneter, griff den Fall auf, protestierte ebenfalls und forderte den deutschen Außenminister Klaus Kinkel [1936–2019] auf, geeignete diplomatische Schritte gegen Albanien zu setzen. Die Deutsche Welle berichtete über Becks Kritik, wodurch diese wiederum Eingang in die albanische Presse fand (Bericht in der Zeitung Koha Jonë vom 23. Oktober). Amnesty International reagierte ebenfalls und leitete eine dringliche Protestaktion in die Wege.
Einer der von der Polizei Malträtierten gab dem Druck nach und verriet den Namen des SGA-Gründers. Dieser wurde von der Polizei vorgeladen. Man warf ihm Kontakte ins Ausland und Verleumdung Albaniens im Ausland vor (ganz scheint die kommunistische Herrschaft noch nicht beseitigt zu sein!). Nachdem er die Polizisten mit 200 Dollar bestochen hatte, wurde er freigelassen.
Später wurde er nochmals vorgeladen, aber nach 18 Stunden Warten ohne Einvernahme wieder weggeschickt – offenbar wollte man testen, ob noch Geld aus ihm herauszupressen war. Inzwischen hat sich die Panik unter den SGA-Mitgliedern wieder gelegt, sie wollen momentan nicht weg, wodurch sich die Frage des Asyls in Österreich zur Zeit nicht stellt.
Reformgroteske in Rumänien
Daß die ILGA und ihre Anliegen auf der KSZE immer mehr Beachtung finden, zeigte sich auch daran, daß die rumänische Delegierte in ihrem Redebeitrag in der Arbeitsgruppe III am 25. Oktober auf das Totalverbot der Homosexualität einging – es war das erstemal in der KSZE-Geschichte, daß ein von der ILGA kritisiertes Land auf ihre Kritik reagierte. Die Delegierte wies darauf hin, daß eine Strafrechtsreform im Parlament behandelt werde und daß – wie aus den bisherigen Diskussionen zu schließen sei – einvernehmliche, private homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen in Zukunft nicht mehr bestraft würden.
Diese Einschätzung sollte sich allerdings als voreilig optimistisch herausstellen: Am selben Abend stimmte nämlich die Abgeordnetenkammer in Bukarest gegen eine Reform des berüchtigten § 200 StGB.
LN-LeserInnen kennen diese schier endlose Reformgeschichte, die sich seit September 1993 hinzieht: Im Zuge des Beitritts zum Europarat mußte Rumänien sich verpflichten, das Totalverbot homosexueller Handlungen zwischen Frauen und Männern aufzuheben. Außerdem haben internationale Menschenrechtsorganisationen, wie die ILGA, Amnesty International oder die Internationale Helsinki-Föderation immer wieder gegen § 200 und seine Anwendung protestiert. Mittlerweile wurden in Rumänien vier verschiedene Reformvorschläge produziert: Die Regierungsvorlage sieht vor, die Strafbarkeit auf jene Fälle zu beschränken, die „öffentliches Ärgernis“ hervorrufen, der Justizausschuß des Senats wollte dann das bestehende Gesetz durch Erhöhung der Strafrahmen sogar noch verschärfen (vgl. LN 1/1994, S. 56 ff), der Senat als Ganzes votierte indes für den Regierungsentwurf (vgl. LN 2/1994, S. 58), dieser wurde aber vom Justizausschuß der Abgeordnetenkammer weiter abgemildert, sodaß nur öffentlich begangene Handlungen strafbar gewesen wären (vgl. LN 3/1994, S. 73). Schließlich stimmte das Plenum der Kammer am 25. Oktober 1994 für die unveränderte Beibehaltung des § 200.
Diskussion auf der KSZE
Am 1. November 1994 gab der Vertreter der Niederlande, Wouter Plomp, in der Arbeitsgruppe III ein gemeinsames Statement der Delegationen Norwegens und Hollands zum Thema „Toleranz und Homosexualität“ ab. Es war dies im übrigen der erste Redebeitrag einer Delegation im Laufe des fast 20jährigen Helsinki-Prozesses, der sich ausschließlich mit dem Thema „Lesben- und Schwulendiskriminierung“ beschäftigte. Plomp ging darin auch auf die Rede der rumänischen Delegierten ein und bedauerte, daß sich ihre Erwartungen durch die Abstimmung im Parlament nicht erfüllt haben. Nach diesem Statement bat die Vertreterin Rumäniens um das Wort und berichtigte, daß die Entscheidung noch nicht endgültig sei, daß nunmehr ein Vermittlungsausschuß zwischen Senat und Abgeordnetenkammer einen Kompromiß zwischen den beiden Vorschlägen finden müsse. Falls dieser dann nicht der Verfassung und der Menschenrechtskonvention entsprechen sollte, müßte wieder der Verfassungsgerichtshof befaßt werden (dieser hatte ja am 15. Juli 1994 den geltenden § 200 als verfassungswidrig erkannt – vgl. LN 4/1994, S. 48).
Aber wieder wurden die Aussagen der rumänischen Delegierten, die im übrigen im Gespräch mit ALEXANDRA DUDA und mir einen sehr kompetenten und engagierten Eindruck machte, von den Ereignissen in Bukarest überholt: Am selben Tag revidierte die Abgeordnetenkammer ihre Entscheidung aus der Vorwoche. Laut Nachrichtenagentur Rompres sollen homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nunmehr nur dann mit Gefängnis von einem bis fünf Jahren bestraft werden, wenn sie „in der Öffentlichkeit stattfinden und die öffentliche Ordnung stören“. Der rasche Meinungsumschwung in der Abgeordnetenkammer hatte allerdings einen konkreten politischen Grund: Ausgerechnet als die Kammer ihre Entscheidung am 25. 10. fällte, weilte der schwedische Generalsekretär des Europarats, Daniel Tarschys, zu Besuch in Bukarest. Das Votum der Kammer mußte natürlich als Affront gegen den Europarat betrachtet werden und brachte die politische Führung des Landes klarerweise in eine äußerst peinliche Lage. Ob das Ergebnis der Abstimmung am 1. November den Vermittlungsausschuß hinfällig macht und die Reform damit endgültig beschlossen ist, ist uns zu schreibender Stunde noch nicht klar. Wir hoffen es aber sehr.
Schwierigkeiten könnten aber gewisse politische Kreise machen. Der orthodoxe Patriarchat Teoctist [I. Arăpașu, 1915–2007] etwa protestierte in einem offenen Brief gegen die Reform. Der christlich-orthodoxe Studentenverband Rumäniens (ASCOR) rief zu einer Demonstration gegen die Neufassung des § 200 vor dem Parlament auf. Zahlreiche Gruppierungen, wie die nationalistische Studentenliga, folgten dem Aufruf. Es kam zu Rangeleien zwischen den religiösen Fundamentalisten und schwulen Gegendemonstranten. ASCOR initiierte zudem eine Unterschriftensammlung zur Beibehaltung der bisherigen Fassung des § 200. Sollte eine halbe Million Unterschriften gesammelt werden, muß das Parlament ein Referendum darüber abhalten lassen.
ILGA gibt weiteres Statement ab
Der niederländische Delegierte Wouter Plomp erwähnte in seinem Beitrag aber auch die USA, wo in über 20 Bundesstaaten ebenfalls nach wie vor ein Totalverbot homosexueller Handlungen besteht. Außerdem gab er grundsätzlich zu bedenken, daß diskriminierende Gesetzesbestimmungen den BürgerInnen ein schlechtes Beispiel geben. Sie könnten der Allgemeinbevölkerung leicht den Eindruck vermitteln, daß sie mit ihren Vorurteilen recht hätte, und auf diese Art billigen Regierungen indirekt Übergriffe auf Homosexuelle oder laden gar dazu ein. Es sei die Überzeugung der Delegationen der Niederlande und Norwegens, daß sowohl die rechtliche Diskriminierung als auch das indirekte Billigen von Übergriffen auf Homosexuelle eine wichtige Frage sei, die von der KSZE nicht vernachlässigt werden sollte.
Ein Vertreter der USA ergriff danach das Wort, um zu erklären, daß die Bundesregierung keine Möglichkeit habe, die Gesetze in den einzelnen Bundesstaaten zu ändern, daß aber die neue Regierung unter Bill Clinton sich grundsätzlich für die Verbesserung der Lage von Lesben und Schwulen einsetze.
Mit meiner Wortmeldung [PDF hier] war ich dann die vierte Person, die an diesem Nachmittag des 1. Novembers in der Arbeitsgruppe III zum Tagesordnungspunkt „Toleranz und Nichtdiskriminierung“ zum Thema Homosexualität sprach. Ich hielt das stets geplante und von der HOSI Wien vorbereitete Statement im Namen der ILGA und benötigte dafür genau die sieben Minuten Redezeit, die jeder NGO gestattet wurde.
Im übrigen haben sich die Delegationen in Budapest mit der Miterwähnung unseres Anliegens in ihren Redebeiträgen sehr zurückgehalten. Meines Wissens ging neben den genannten Delegationen nur die schwedische in einem allgemeinen Statement darauf ein. Sie betonte, daß im Bereich der Nichtdiskriminierung noch viel zu tun sei, speziell im Frauenbereich. Erwähnt werden könne in diesem Zusammenhang aber auch die Diskriminierung von Wehrdienstverweigerern und Homosexuellen.
Weiteres Lobbying
Ich telefonierte an diesem Tag auch mit der zypriotischen Delegation, die ihre Hausaufgabe – wie bei unserem ersten Besuch im Oktober versprochen – gemacht hatte, was einmal mehr zeigte, daß die ILGA ernstgenommen wird. Die Delegation hatte sich daheim über den Stand der Reform des Totalverbots nach der Verurteilung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erkundigt (vgl. LN 3/1993, S. 55 f). Dem Beschwerdeführer ALEXANDROS MODINOS sei inzwischen die ihm zuerkannte Entschädigung ausbezahlt worden, und ein Gesetzesentwurf zur Reform des Verbots sei bereits im Parlament eingebracht, mit seiner Verabschiedung sei Anfang dieses Jahres zu rechnen.
Ich hatte auch noch ein kurzes Gespräch mit Vertretern der niederländischen und norwegischen Delegationen. Ein Vorschlag, „sexuelle Orientierung“ ins Dokument aufzunehmen, war von ihnen noch nicht eingebracht worden. Man wolle andere Vorschläge, in denen man diesen einfügen könnte, abwarten.
Auch bei meinem nächsten Besuch am 11. November gab es noch keinen Vorschlag, und so sollte es bis zum Ende der Konferenz bleiben. Das Problem war einfach, daß die meisten Menschenrechtsbereiche bereits in den bestehenden Dokumenten behandelt worden sind, eine Extra-Behandlung des schwul/lesbischen Anliegens, womöglich noch mit eigener Überschrift, im neuen Dokument hätte sie Sache zu prominent gemacht. Dagegen gab es offenbar zu großen Widerstand.
Nach Budapest
Budapest war auf jeden Fall die letzte Gelegenheit, bei der eine Erweiterung der bestehenden Normen und Standards im Bereich der menschlichen Dimension erfolgen hätte können. Die ILGA wird daher ihre Strategie ändern und in Zukunft im Rahmen der OSZE, wie die Organisation seit 1. Jänner heißt, auf die Einhaltung und Durchsetzung bestehender Verpflichtungen pochen müssen. Dabei werden wir argumentieren, daß Nichtdiskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung in den bestehenden KSZE-Dokumenten sehr wohl enthalten ist, was von keinem Teilnehmerstaat je bestritten worden ist – sie wollten halt nie, daß es ausdrücklich angeführt wird. Die ILGA wird daher wohl auch in Zukunft an den Implementierungstreffen und den Seminaren der menschlichen Dimension teilnehmen. Auch wenn wir nicht alles erreicht haben, war wir wollten, ist unser Einsatz nicht umsonst, wenn er beispielsweise dazu beiträgt, daß auch nur in einem Land das Totalverbot aufgehoben wird.
Nachträgliche Anmerkung:
Diese Enttäuschung in Budapest führte wohl dazu, dass die ILGA im darauffolgenden Jahr ihre Lobbying-Aktivitäten reduzierte. Es reichte nur für ein schriftliches Statement an das Implementierungstreffen der Menschlichen Dimension der OSZE, das im Oktober 1995 in Warschau stattfand. Eine persönliche Teilnahme fand nicht statt. Ab 1996 nahmen ILGA-Aktivisten indes wieder regelmäßig an wichtigen OSZE-Tagungen teil.