Reinhardt Brandstätter 1952–1992
Die ersten Treffen der HOSI Wien fanden 1979/80 – bis zur Eröffnung des HOSI-Zentrums – noch im damaligen Treibhaus im 5. Bezirk statt. Mit auf diesem Foto vom Dezember 1979: HORST KREUZAHLER (1954–2021), FLORIAN SOMMER (sitzend), WOLFGANG FÖRSTER, REINHARDT BRANDSTÄTTER, ARTHUR PRIKRYL (1954–1995), WOLFGANG MARTINEK (1948–2012) und ganz rechts DIETER SCHMUTZER.
FOTO: PROFIL
Reinhardt Brandstätter wurde am 25. September 1952 in Linz geboren, wo er auch aufwuchs und maturierte. Sein Medizinstudium absolvierte er in Graz und Wien. Sein ganzes Leben lang hat er sich für soziale Anliegen engagiert: als Mittelschüler für das Jugendrotkreuz, als Student in der Anti-AKW-Bewegung. Schon 1979 war er bei den allerersten Treffen der späteren HOSI Wien dabei. Auf deren konstituierender Generalversammlung im Jänner 1980 wurde er zum Vizeobmann gewählt. Von 1983 bis 1991 war er Obmann der HOSI Wien, danach Ehrenobmann.
In der HOSI Wien war Reinhardt vielseitig aktiv, besonders verdient machte er sich im politischen Lobbying und in der Medienarbeit sowie als Podiumsdiskutant. Jahrelang prägte er die Vereinsarbeit, initiierte viele Projekte und unterstützte viele Aktivitäten. Untrennbar mit Reinhardt verbunden ist indes die AIDS-Präventionsarbeit, die in Österreich von der HOSI Wien ihren Ausgang nahm. Darauf soll auch der Schwerpunkt dieses Beitrags liegen.
AIDS wurde im März 1983 in Österreich Thema, als die Medien über die ersten heimischen AIDS-Fälle berichteten, und das ziemlich hysterisch. Gegen die dadurch ausgelöste Verunsicherung mußte etwas getan werden. Reinhardt initiierte eine Informationsbroschüre, die gemeinsam mit der 1. Universitäts-Hautklinik und dem Institut für Virologie verfaßt und von der HOSI Wien und der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundheit herausgegeben wurde. Sie war die erste Info-Broschüre in Europa. Schon damals zeigte sich, wie wichtig Reinhardts Wissen, Weitblick, Gespür und Verantwortung für wesentliche Weichenstellungen in der österreichischen AIDS-Politik waren. Es erstaunt, wie vorausschauend er war und wie gültig seine Auffassungen noch heute sind, bedenkt man die historischen Umstände und den wenig gesicherten Wissensstand über AIDS zum jeweiligen Zeitpunkt.
So war im März 1983 noch nicht wirklich gesichert, daß AIDS durch ein Virus ausgelöst wurde, den Begriff „Safer Sex“ gab es ebensowenig wie eine Empfehlung, Kondome zu verwenden. Es war die Zeit der Gerüchte und Spekulationen – und der Panikmache. Auch unter Homosexuellen gab es extreme Reaktionen, die einen machten ihren exzessiven und promisken Lebensstil in den 70er Jahren für die neue Bedrohung verantwortlich, andere wiederum sahen in der ganzen Sache einen abgekarteten, quasi „erfundenen“ Anschlag der Gesellschaft auf die gerade erst beginnende Befreiung. In dieser Phase hat Reinhardt erkannt, wie wichtig Information für einen rationalen Umgang mit dieser Krankheit ist. Er wehrte sich gegen die Verwendung von Schlagworten wie „Schwulenseuche“ (zu einem Zeitpunkt, da Österreich zwei AIDS-Fälle verzeichnete) ebenso wie gegen die Verbreitung von Angst und Panik. So meinte er in besagter Broschüre 1983: Der Verlauf der einzelnen Krankheit ist jedoch schrecklich und oftmals tödlich. Daher sollten wir möglichst alles tun, was eine Ausbreitung verhindert. Angst und Panik oder übertriebene Reduzierung der Sexualität oder Sexualfeindlichkeit sind keine geeigneten Mittel dazu. Angst ist eine das körperliche Gleichgewicht zerstörende Größe. Und Angst ergreift den umso eher und umso mehr, der mit Schuldgefühlen lebt, etwa wegen seiner Homosexualität, und dem Selbstunterdrückung nicht fremd ist. Unsere Antwort darauf muß daher unsere persönliche Emanzipation sein, unsere Selbstakzeptierung als Homosexuelle und das bewußte Leben unserer Homosexualität.
Weitblick und Weichenstellung
Kurz darauf bestätigte sich der Verdacht, daß AIDS durch ein Virus hervorgerufen wird, es konnte isoliert werden. Ende 1984 stand dann ein noch nicht zugelassener Antikörpertest zur Verfügung. Es war wieder Reinhardt, der die Bedeutung dieser Untersuchung und ihre potentiellen Konsequenzen für den einzelnen erkannte und entsprechende, für die Zukunft der AIDS-Politik ganz wichtige Weichen stellte. Eine der wesentlichen Überlegungen in diesem Zusammenhang war, daß der Test nur mit vorheriger Aufklärung und ausführlicher Information über HIV/AIDS und über seine Aussagekraft sowie mit umfassender Beratung bei Befundausgabe durchgeführt werden sollte. Ebenso wichtig war die Überlegung, den Test anonym anzubieten, um mögliche Diskriminierungen positiv Getesteter hintanzuhalten. Eines war Reinhardt klar: Viele verängstigte Homosexuelle würden den Test auf alle Fälle machen wollen, sobald er auf dem Markt sein würde. Viele würden die Konsequenzen und das Risiko der Diskriminierung nicht bedenken und für die Testung das öffentliche Gesundheitswesen in Anspruch nehmen. Deshalb entschloß sich die HOSI Wien, durch ihre Beteiligung eine anonyme Studie über die Prävalenz von HIV-Antikörpern unter Schwulen zu ermöglichen. Sie wurde von Prof. Horak von der 2.Universitätsklinik für Hepatologie und Gastroenterologie in Wien geleitet. Wer seine Ergebnisse nicht wissen wollte, brauchte sie einfach nicht abzuholen. Auf Wunsch der HOSI Wien wurde eine Fragebogenerhebung zu möglichen Ko-Faktoren der Infektion angeschlossen. Die Studie, die bis Ende März 1985 dauerte, war die erste größere Studie in Europa über die Prävalenz von HIV-Antikörpern bei schwulen Männern. 318 hatten sich daran beteiligt, 68 (21,4 %) waren HIV-positiv.
Nach dieser Studie saßen nun die involvierten ÄrztInnen und die HOSI Wien auf diesen positiven Befunden, die Betroffenen brauchten weiterhin Betreuung, und auch der Bedarf an anonymer Testung blieb bestehen. Aus dieser Not heraus entwickelte Reinhardt gemeinsam mit Judith Hutterer, die damals die AIDS-Ambulanz im Wiener AKH leitete, und engagierten BeamtInnen des Gesundheitsministeriums ein Konzept, das im August 1985 zur Gründung der Österreichischen AIDS-Hilfe führte. Es war Reinhardts Überzeugungskraft und Engagement zu verdanken, daß der damalige Gesundheitsminister die nötigen Mittel bereitstellte. Gegen viele unglaubliche, heute unvorstellbare Widerstände, Vorurteile und Ablehnung kämpfend, gelang es, innerhalb kurzer Zeit in Österreich ein flächendeckendes Netz von Beratungsstellen zu errichten, die erste, in Wien, wurde im November 1985 eröffnet.1 Ihre Aufgabenbereichen waren Prävention durch Information und Aufklärung, die anonyme und kostenlose Durchführung des HIV-Antikörpertests samt Beratung vor dem Test und bei Ergebnismitteilung sowie die psychosoziale Betreuung HIV-Positiver. Daß die ÖAH schon 1985 auf den Test setzte, stieß anfänglich auf Kritik, etwa von seiten der Deutschen AIDS-Hilfe. Das Modell der ÖAH wurde von der Weltgesundheitsorganisation indes als beispielhaft anerkannt, in mehreren europäischen Ländern wurden Betreuungseinrichtungen nach diesem Vorbild errichtet.
Eigenverantwortung statt Zwang
Im Sommer 1985 kam es zur zweiten großen medialen Berichterstattungswelle in Österreich, die Medien liefen geradezu Amok. Seit den turbulenten Märztagen 1983 hatten die Medien das Thema AIDS kaum mehr aufgegriffen. Der Autor dieser Zeilen bezeichnete diese Zeit einmal als „Drôle de guerre“-Jahre.2 Nun war wieder die Stunde Reinhardts, der sich in fast missionarischem Eifer der Aufklärung und Information über AIDS widmete – für ihn der Hauptpfeiler jeglicher AIDS-Prävention. Sein Credo war stets: Erfolgreiche Prävention kann nur auf der Basis von Vertrauen, Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und Wissen, nie jedoch durch Zwang geschehen. Reinhardt gab in den nächsten sechs Jahren wohl hunderte Interviews für Zeitungen, war Dauergast in Hörfunk- und Fernsehsendungen – allein im Club 2 war er viermal zu Gast. Auch speziell Medien aus dem damaligen Ostblock, ob ungarisches TV oder jugoslawische Zeitungen, interessierten sich für die Arbeit der AIDS-Hilfe. Unzählig waren auch die Vorträge und Informationsveranstaltungen, die Reinhardt in ganz Österreich absolvierte. Bei diesem unermüdlichen und konsequenten Einsatz stand stets auch der Abbau von Vorurteilen gegen Homosexuelle im Vordergrund. Da Reinhardt im öffentlichen Bewußtsein immer als offen Schwuler und Obmann der HOSI Wien wahrgenommen wurde, färbte Reinhardts Publizität und Popularität auch auf die HOSI ab. Reinhardt erfüllte schon damals im öffentlichen Leben die Rolle des Sympathieträgers für die Anliegen von Schwulen und Lesben, wie etwa später Alfons Haider, Günter Tolar oder Hermes Phett
Reinhardts Einsatz für vorurteils- und hysteriefreie Aufklärung wurde im März 1987 auch vom WIENER gewürdigt. Das Monatsmagazin begründete Reinhardts Wahl zum „Wiener des Monats“ wie folgt: Zwei Möglichkeiten gibt es, (…) AIDS zu Leibe zu rücken. Mit Hirn. Mit Herz. Oder mit beidem. Reinhardt Brandstätter (…) hat das Medizinerherz nicht im Wartezimmer abgegeben und den Verstand an die pharmazeutische Industrie verkauft. (…) Er ist zum starken und integren Rückgrat inmitten einer verwaschenen, verwirrenden, verhetzenden Anti-AIDS-Front geworden. Ein Halt für viele Seropositive und bereits Erkrankte. (…) Brandstätter ist mutig und blickt durch: Der Antikörpertest, so meint er, ist in erster Linie ein Bombengeschäft für die Pharmakonzerne (…). Reinhardt, behalten Sie die Nerven. Wenn selbsternannte Retter des Abendlandes zukünftigen AIDS-Ghettos das Wort reden, brauchen wir Menschen Ihres Schlages.
Gelegenheit, seine Kämpfernatur unter Beweis zu stellen, gab es genug. Reinhardt war sicherlich ein kompromißbereiter und pragmatischer Mensch, der nicht um jeden Preis mit dem Kopf durch die Wand wollte, aber über gewisse Prinzipien war er nicht bereit zu verhandeln. In all den Jahren fanden ständige Grabenkämpfe und Kleinkriege über die AIDS-Politik statt. Scharfmacher versuchten immer wieder, Zwangsmaßnahmen durchzusetzen. Bayern bot sich da als Vorbild an. Doch vergeblich. Meldepflicht, zentrale Erfassung aller Betroffenen, Datenschutz waren nur einige der ständigen heißen Themen. Politiker von ÖVP und FPÖ etwa forderten die Aufnahme ins Epidemiegesetz, was Reinhardt kurz und prägnant mit dem Ausspruch quittierte: Wer das fordert, ist „ein Idiot“ (profil # 5 vom 2. 2. 1987). Ein Skandal waren auch die Massentestungen an 180.000 PatientInnen ohne deren Wissen in den Wiener Spitälern sowie an allen BewerberInnen für Jobs bei der Gemeinde Wien. Hier verpulverte 1986/87 der damalige Gesundheitsstadtrat Alois Stacher Millionen Schilling für sinnloses und unnützes Massenscreening – während die Stadt Wien später es nicht einmal schaffen sollte, die stationäre Versorgung aller AIDS-PatientInnen in Wien zu gewährleisten. Reinhardt nahm sich kein Blatt vor den Mund und trat vehement gegen diesen Testwahnsinn auf.
Unbestechlich und konsequent
Reinhardt kritisierte, wenn notwendig, auch die Medien – etwa den ORF, als er sich weigerte, einen Anti-AIDS-Spot des Gesundheitsministeriums zu senden, in dem das Wort „Präservativ“ vorkam. Der Gesundheitsminister, obwohl bei weitem der größte Geldgeber der AIDS-Hilfe, blieb von Kritik ebenfalls nicht verschont, wenn sie gerechtfertigt war. Und auch nicht die Pharma-Industrie. Als die ersten Medikamente vermarktet wurden und viele sich an diese Strohhalme klammerten, was den Herstellerfirmen nur recht war, mahnte Reinhardt zu gesunder Skepsis. Wiewohl er zugab, daß es damals zum umstrittenen Retrovir/AZT, das er auch selber nahm, keine Alternative gab, meinte er doch, daß die Propaganda der Firma Wellcome für AZT „nun schon etwas zu weit“ ginge (Wochenpresse # 47 vom 17.11.1989). Für endgültige Aussagen zu AZT waren die Erfahrungen damals einfach zu kurz. Erst viel später sollte mit der großangelegten Concord-Studie nachgewiesen werden, daß AZT als Monotherapie keinen nennenswerten Nutzen brachte.
Reinhardt mußte die Funktion des Geschäftsführers der Österreichischen AIDS-Hilfe 1990 aus gesundheitlichen Gründen zurücklegen. Die ÖAH geriet in eine Krise, die sowohl interne als auch externe Ursachen hatte. Schließlich löste sich der Verein, dessen Vizepräsident Reinhardt bis dahin immer noch war, per Ende Juni 1991 ordnungsgemäß und mit finanziellem Überschuß auf – immer wieder wurde fälschlicherweise behauptet, die ÖAH sei in Konkurs gegangen. Die Landesstellen wurden eigene Vereine. Sie konnten im wesentlichen auf dem Fundament der ÖAH aufbauen und teilweise sogar mit den gleichen personellen und infrastrukturellen Ressourcen ihre Arbeit fortsetzen bzw. tun dies bis heute.
Für Leute, die damals nicht unmittelbar mit der AIDS-Politik in all ihren Facetten und Bereichen befaßt waren, und für junge Leute ist es wahrscheinlich unmöglich, heute nachzuvollziehen, was der Kampf gegen HIV/AIDS auf all diesen Gebieten – Aufklärung, Betreuung, Versorgung, Therapie, gesetzliche Maßnahmen usw. – an Herausforderungen mit sich brachte und welche Leistung es war, den Kurs der AIDS-Politik, der AIDS-Prävention und der AIDS-Versorgung in jene Richtung zu lenken, den diese schließlich genommen haben.
Fußnoten:
1 Am Höhepunkt dieser Entwicklung arbeiteten 120 Leute für die ÖAH. Natürlich hatten viele engagierte MitarbeiterInnen und Vorstandsmitglieder erheblichen Anteil an dieser Erfolgsgeschichte, auch waren am Aufbau der Landesstellen in den Bundesländern die lokalen Homosexuellen Initiativen maßgeblich beteiligt. Ihre Rolle soll hier keinesfalls geschmälert oder ignoriert werden. Aus verständlichen Gründen konzentriert sich jedoch diese Hommage auf Reinhardt Brandstätter. Eine umfassende Darstellung der Arbeit der ÖAH erfolgte in der 300seitigen Publikation 5 Jahre Österreichische AIDS-Hilfe – 1985–1990, die im Juni 1990 herausgegeben wurde.
2 Kurt Krickler: Homosexualität und AIDS(-Politik), in: Michael Handl/Gudrun Hauer/Kurt Krickler/Friedrich Nussbaumer/Dieter Schmutzer: Homosexualität in Österreich. Junius-Verlag, Wien 1989.