Interview in Kirche In Nr. 8/2009
Was ist schon „normal“
Was ist Homosexualität? Für Kurt Krickler, Generalsekretär der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien, ist das nicht die wesentliche Frage, auch wenn er gut zwei Stunden mit Kirche In ganz offen darüber spricht. Von Sabine Karrer
„Der typische Homosexuelle ist verheiratet und hat zwei Kinder“, stellt Krickler fest. Nach wie vor sei es für viele nicht lebbar. „Die betrügen halt ihre Frauen nicht mit anderen Frauen, sondern mit Männern. Gelegentlich gehen sie in die Sauna und leben sonst heterosexuell.“ Krickler betont die Wichtigkeit von Regenbogenparade und Life Ball, weiß aber auch: „Was dort ‚zutage‘ tritt, ist die oberste Spitze der geouteten, selbstbewussten Homosexuellen.“ Auch wenn Schwule und Lesben heute nicht mehr ins Gefängnis gesteckt werden oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ihren Arbeitsplatz verlieren: Viele verstecken sich, weil sie gesellschaftliche Nachteile befürchten (müssen). Dabei ist die Palette der sexuellen Zugehörigkeiten groß: Homosexuelle, die das offen ausleben, Homosexuelle, die sich verstecken, die heterosexuell verheiratet sind, Bisexualität – bis hin zur sogenannten „Not-Homosexualität“ etwa im Gefängnis. Es sei letztlich nicht immer eindeutig, „es gibt ja fließende Übergänge.“
Heilung fehl am Platz
Irgendwann will ich es wissen: Wie fühlt man sich, wenn man immer wieder über seine sexuelle Orientierung sprechen muss? Wenn man Heterosexuellen erklärt, was Homosexualität ist? Krickler antwortet, er würde ja nicht über seine persönliche Sexualität sprechen. Und doch schwingt diese mit, natürlich, sonst würden wir nicht hier sitzen. Wie viele Menschen sich in dem Zusammenhang zu teils menschenverachtenden Aussagen hinreißen lassen, beweisen Aussagen von kirchlichen Würdeträgern. So hält Weihbischof Andreas Laun Homosexualität für „heilbar“. Krickler bestreitet nicht, dass nicht jede/r das ganze Leben lang homosexuell lebt, ergänzt aber: „Begriffe wie ‚Krankheit‘ oder ‚Heilung‘ sind völlig fehl am Platz. Man hat sich’s halt dann anders überlegt.“ Es gebe ein breites Band an Möglichkeiten, im Moment, aber auch übers Leben gesehen. „Wenn jemand verheiratet war, Kinder hat und irgendwann draufkommt, dass er oder sie ein falsches Leben gelebt hat und das ändert, dann spricht man ja auch nicht davon, dass man von der Heterosexualität geheilt worden ist. Man hat sich dann halt für einen anderen Lebensentwurf entschieden.“
Wind aus den Segeln nehmen
Man solle niemanden diskriminieren oder zwingen, sich zu ändern, „weil es die Gesellschaft so will und weil es eine Norm gibt“. Er selbst habe sich zwar nie diskriminiert gefühlt, aber er, heute 50, wurde auch in eine Generation hineingeboren, in der das Totalverbot schon aufgehoben war. „Ich war vielleicht auch in einer privilegierteren Situation, war freiberuflich tätig, arbeitete in der AIDS-Hilfe, war kein Beamter oder Lehrer, musste keinen Job finden, wo es ein Problem hätte sein können.“ Und er hat einen Tipp: „Wenn man es selbstbewusst und selbstverständlich lebt, dann nimmt man den Leuten den Wind aus den Segeln.“ Krickler ging sogar einen Schritt weiter: Vor vielen Jahren behauptete er von vier hohen kirchlichen Würdenträgern, sie hätten homosexuelle Neigungen. „Ich wollte damals nachweisen, dass die Diskriminierung darin liegt, dass dieser ‚Vorwurf‘ als Ehrenbeleidigung gesehen wird“, sagt Krickler, der dafür auch verurteilt wurde. „Das hat auch anderen die Augen geöffnet, zum Beispiel, wie Medien funktionieren. Einige haben sich gleich darauf gestürzt, konnten kaum erwarten, dass ich endlich Namen nenne.“
Rechtlich und gesellschaftlich hat sich in Österreich in den letzten dreißig Jahren – so lange gibt es die HOSI Wien bereits, und so lange hat sich Krickler ehrenamtlich im Verein engagiert – sehr viel verändert. Für ihn ist es fast ein Treppenwitz der Geschichte, dass wichtige Errungenschaften ausgerechnet unter den schwarz-blau-orangen Regierungen erreicht wurden: Das höhere Mindestalter, die letzte strafrechtliche Sonderbestimmung, wurde 2002 abgeschafft, homosexuelle NS-Opfer wurden 2005 endlich im Opferfürsorgegesetz anerkannt, und Antidiskriminierungsbestimmungen für die Arbeitswelt wurden 2004 eingeführt.
Auch wenn sich vieles verbessert hat, gibt es allerdings noch offene Forderungen an die Politik: „Im Wesentlichen sind das die standesamtlich eingetragene Partnerschaft oder die Öffnung der Zivilehe, wobei wir letzteres gar nicht unbedingt haben wollen, solange das Eherecht so konservativ und da vor allem das Scheidungsrecht geradezu anachronistisch ist. Unseretwegen darf es daher durchaus etwas Fortschrittlicheres sein.“ Ehe bzw. eingetragene Partnerschaft sei, wie die ausländischen Beispiele zeigten, für Lesben und Schwule ohnehin ein Minderheitenprogramm. Selbst in Dänemark, wo die eingetragene Partnerschaft ein modernes Rechtsinstitut ist, sei das Interesse nicht besonders groß – nur ein bis fünf Prozent der Lesben und Schwulen nehmen diese Möglichkeit in Anspruch. Allerdings: „Auch wenn es nur ein einziges Paar wollte, dann muss in einer Demokratie die Möglichkeit dafür bestehen, alles andere wäre Diskriminierung.“ Der HOSI-Wien-Generalsekretär vermutet, dass in den ersten ein bis zwei Jahren der große Schwung kommen werde, weil sehr viele eben schon lange darauf warten, und es sich dann auf niedrigem Niveau einpendeln werde.
Ein Grund dafür sei auch, dass „gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ja heute ohnehin schon in allen Rechtsbereichen mit verschiedengeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gleichgestellt sind. Das haben wir durch ein Musterverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchgekämpft. Das betrifft etwa das Eintrittsrecht in den Mietvertrag im Todesfall oder die Mitversicherung in den gesetzlichen Krankenversicherungen. Viele Punkte können auch durch notarielle Vereinbarungen geregelt werden, etwa das Besuchsrecht im Krankenhaus durch eine Patientenverfügung. Das wirklich große Problem ist, wenn der Partner oder die Partnerin aus einem Nicht-EU/EWR-Staat kommt, dann gibt es mitunter unüberwindliche Schwierigkeiten bei Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis.“
Die Möglichkeit der Adoption für homosexuelle Paare werde unter der ÖVP wohl nicht kommen, zeigt sich Krickler realistisch, die Forderung bleibe aber aufrecht.
„Aus dem Schrank kommen“
San Franciscos erster bekennend schwuler Stadtrat Harvey Milk hatte seine eigene Ansicht über die Überwindung von Vorurteilen. „Coming out of the closet“ bedeutet übersetzt, „aus dem Schrank herauskommen“, „sich outen“. Vielleicht in Erwartung eines gewaltsamen Todes sagte Milk: „Sollte eine Kugel in mein Hirn treten, lasst diese Kugel jede Schranktür zerstören.“ Würde sich jeder Homosexuelle outen, würde jede Schranktür zerstört, dann würde auch jeder begreifen, meinte er. Aber der Aktivist bewegte nicht nur Homosexuelle. Er scharte eine große Anhängerschaft um sich, weil er in ihnen etwas berührte, weil er ihnen eine Perspektive aufzeigte: „Ohne Hoffnung werden sie aufgeben: nicht nur die Schwulen, auch die Schwarzen, die Alten, die Behinderten. Unsere Leute werden aufgeben. Und deshalb müssen wir ihnen Hoffnung geben.“ Noch immer sind viele Schranktüren geschlossen. Menschen haben Gründe, ihr Privatleben im Geheimen zu leben: Tratsch der Nachbarn, von Eltern und Freunden verstoßen zu werden, das Gefühl, nicht normal zu sein, Probleme am Arbeitsplatz, um nur ein paar zu nennen. Sogar Kündigung kann ein Grund sein, so gilt für Angestellte der katholischen Kirche weder das Antidiskriminierungsgesetz noch die Menschenrechtskonvention.
Krickler kann Milks Ansatz auch heute viel abgewinnen. Auch die HOSI Wien habe sich in all den Jahren als Teil einer breiten Bewegung für Gleichstellung und gegen Diskriminierung aus vielen Gründen verstanden und sich solidarisch mit anderen Anliegen gezeigt. Und am „Herauskommen aus dem Schrank“ führe kein Weg vorbei: „Wenn alle einen grünen Punkt auf der Nase hätten, die schwul oder lesbisch sind, würde die Diskriminierung aufhören, weil die Leute merken würden, wie viele ihrer Freunde, Verwandten, Arbeitskollegen und Nachbarn homosexuell sind.“ Wirklich nötig sei es, erlangte Rechte immer wieder zu verteidigen: „Man sieht ja, wenn etwa in Osteuropa Paraden verboten werden, dass man sich das immer wieder neu erkämpfen muss. Genauso wie bei den Frauenrechten.“ Von einer Selbstverständlichkeit dürfe man nicht ausgehen: „Die Stimmung kann kippen. Dass wir’s momentan so gemütlich haben, ist kein Gewohnheitsrecht.“ Vor allem für die Jungen seien Vorbilder und Sichtbarkeit wesentlich: „Immer noch sagen Eltern viel zu oft, ach das ist ja nur eine Phase, die vergeht wieder…“
Rund ein Monat nach dem Interview treffe ich Kurt Krickler wieder: Er ist einer der Redner bei einer Veranstaltung vorm Parlament. Zwei Studentinnen haben spontan eine Lichterkette organisiert, um gegen ausländerfeindliche, hetzerische Politik aufzutreten. Es geht nicht um schwul sein oder nicht. Nicht um anders sein oder gleicher sein. Es geht darum, dass wir alle Menschen sind, es geht um Liebe und um gegenseitigen Respekt.
Filmtipp:
Harvey Milk wurde 1930 in New York geboren. Anfang der 70er Jahre zog er mit seinem Freund Scott nach San Francisco, in den von vielen Homosexuellen bewohnten Stadtteil Castro. Hier setzt die Handlung des Films ein. Von Castro aus beginnt Milk, sich für die Rechte von Schwulen und Lesben einzusetzen. Mehrere Kandidaturen scheitern, doch schließlich wird Milk zum Stadtrat ernannt, kämpft unter anderem erfolgreich gegen ein geplantes Referendum zur legalen Kündigung homosexueller Lehrer. Sein eiserner politischer Gegner ist Dan White, ein strenggläubiger Katholik. Der frustrierte White erschießt Milk und Bürgermeister George Moscone. Regisseur Gus Van Sant setzte Milk mit dem gleichnamigen Film ein Denkmal, Sean Penn erhielt für die Darstellung des Aktivisten einen Oscar. Die deutschsprachige Version erscheint im Dezember auf DVD.