Kommentar der anderen im Standard
Berlin 1936 – Sotschi 2014: Unübersehbare Parallelen
In einer unfassbaren Mischung aus Naivität, Ignoranz und schon an Sympathie grenzender Gleichgültigkeit gegenüber den politischen und menschenrechtlichen Zuständen in Russland versucht das Internationale Olympische Comité (IOC), die Kritik an der Homosexuellenverfolgung in Putins Reich zu relativieren. Doch das bewusste Wegschauen könnte fürs IOC zu einem ähnlich schwarzen Desaster in der Geschichte der olympischen Bewegung werden wie Berlin 1936.
Putin und IOC wollen uns beruhigen: Ausländische Sportlerinnen und Sportler würden keinesfalls diskriminiert – auch nicht aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Aber das hat ohnehin niemand angenommen. Wäre ja auch noch schöner! Vielmehr geht es darum, dass es den Sportlern – und allen anderen Olympia-Teilnehmern – bei Strafe untersagt ist, sich positiv über (die eigene) Homosexualität zu äußern. Das ist eine klare Menschenrechtsverletzung und inakzeptable Zensur. Und natürlich geht es in erster Linie um die russischen Lesben und Schwulen.
Und da drängt sich der Vergleich mit Berlin 1936 geradezu auf. Auch damals wurden die jüdischen Olympioniken aus dem Ausland ja nicht gleich bei der Ankunft ins KZ verfrachtet, aber die deutschen Juden und Jüdinnen waren zu dem Zeitpunkt schon aus vielen Ämtern und Funktionen gedrängt, viele bereits im KZ interniert. Auch viele Einrichtungen der Homosexuellenbewegung waren bereits zerschlagen, und viele Lesben und Schwule mussten in den Untergrund gehen. 1933 war etwa Magnus Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaften im Rahmen der nazistischen Bücherverbrennungen zerstört worden.
Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die Nazis einige der zuvor geschlossenen Schwulenlokale während der Spiele vorübergehend wieder aufsperren ließen, um sich ein liberales Mäntelchen umzuhängen. In dieser Hinsicht könnte Putin sogar noch mehr von den Nazis lernen!
Die Lage im heutigen Russland, wo Lesben und Schwule durch homophobe Gesetze zu Menschen zweiter Klasse, zu Sündenböcken und Freiwild gemacht und quasi aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, erinnert fatal an die Lage in Nazi-Deutschland vor Berlin 1936. Das Gesetz, das „Propaganda“ für Homosexualität verbietet, wenn diese Informationen von Minderjährigen wahrgenommen werden könnten, mag vielleicht nur selten zur Anwendung kommen, seine Botschaft und die praktischen Auswirkungen sind aber verheerend: Lesben und Schwule gehen noch stärker in die innere Emigration, üben Selbstzensur, werden noch unsichtbarer. Die allgemeine Gehirnwäsche führt zu großflächiger Tabuisierung. Homosexuelle sind heute in Russland vogelfrei, sie werden aus öffentlichen Ämtern entfernt oder verlieren ihren Arbeitsplatz.
Und den Rest besorgt der nicht zuletzt von der russisch-orthodoxen Kirche mit aufgehetzte Mob – er hat mit der pogromartigen Hexenjagd bereits begonnen: Übergriffe auf Homosexuelle sind heute in Russland an der Tagesordnung. Als Opfer gewöhnlicher Krimineller werden (vermeintlich) Homosexuelle zu Hause oder auf der Straße überfallen, ausgeraubt und erpresst. Sie sind leichte Beute, weil die Opfer mit keinerlei Schutz durch die Polizei rechnen können. Im Gegenteil: Russland ist auch in der Hinsicht kein Rechtsstaat – die Opfer werden von der Polizei bestenfalls ausgelacht und verhöhnt, können aber nicht mit der geringsten Unterstützung oder gar mit der Verfolgung und Bestrafung der Täter rechnen.
Und Lesben und Schwule haben kaum Fürsprecher oder Verteidiger – weder in der Politik noch in den Medien oder den Wissenschaften. Kaum jemand will für sie Partei ergreifen; einerseits, weil die Homophobie ohnehin weitverbreitet ist in der russischen Gesellschaft, und andererseits, weil jede positive Parteinahme als verbotene Propaganda ausgelegt wird.
Unbeeindruckt von der weltweiten Besorgnis, den internationalen Protesten und auch von den einschlägigen Verurteilungen Russlands durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (eigentlich sollte Russland längst aus dem Europarat ausgeschlossen sein!) und den UNO-Ausschuss für Menschenrechte wegen der homophoben Gesetze und der homophoben Praxis (Verbot von Regenbogenparaden etc.) planen das russische Parlament und Putin weitere homophobe Gesetze, etwa, homosexuellen Eltern ihre leiblichen Kinder behördlicherseits abzunehmen.
Lehren ziehen
Weder das Internationale noch das Österreichische Olympische Comité sollte daher noch länger wegschauen und schweigen. Sie müssen aus Berlin 1936 die Lehren ziehen, sonst machen sie sich wieder mitschuldig! Sollte es ein paar Jahre nach Sotschi zu einer Art „Reichskristallnacht“ – diesmal gegen Lesben und Schwule – kommen, dann möchte man jedenfalls nicht in der Haut der IOC- und ÖOC-Funktionäre stecken. Sie werden dann nicht behaupten können, sie hätten das nicht ahnen können! Sie sind gewarnt worden – eindringlich!
Anmerkung: Meine in diesem Kommentar geäußerten Befürchtungen sollten sich bewahrheiten: Im Dezember 2016 und im Frühjahr 2017 kam es in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens, zu pogromartigen Übergriffen auf Homosexuelle – vgl. LN 2/2017, S. 8 f und 20 ff, und LN 3/2017, S. 22 ff, sowie meinen Kommentar der anderen im Standard bzw. meinen Blog-Beitrag vom 29. Jänner 2019.
Link zum Original-Beitrag: https://derstandard.at/1381373606449/Berlin-1936–Sotschi-2014-Unuebersehbare-Parallelen