Akzeptables Plagiieren
Zur Abwechslung geht es in meiner Kolumne diesmal um ein kontroversielles Thema, weil es mit Geschmack zu tun hat. Und darüber lässt sich ja bekanntlich im Gegensatz zu harten Fakten, etwa in den Bereichen der Linguistik oder Politik, trefflich streiten: den Beiträgen zum Eurovision Song Contest in Wien. Ich finde, die Qualität des heurigen Jahrgangs ist um einiges besser als in den letzten Jahren. Es gibt viel mehr Balladen und weniger von diesen schon tausendmal gehörten und belanglosen 08/15-Popnummern, die nur mehr langweilig sind. Es gibt inhaltlich anspruchsvolle, ja sogar sozialkritische Lieder und noch größere Vielfalt bei den InterpretInnen. Das ist sicherlich auch ein österreichisch-ungarisches Verdienst – denn im Vorjahr hat Conchita Wurst gezeigt, dass man als offen schwule bärtige Dragqueen siegen kann, und András Kállay-Saunders, dass man mit einem Lied, das häusliche Gewalt thematisiert, fünfter werden kann.
Und heuer springen einige Länder auf diesen Zug auf. Das finde ich ausnahmsweise in Ordnung, denn normalerweise stört mich ja das skrupel- und einfallslose Plagiieren von vermeintlichen Erfolgsmaschen beim ESC. Ich würde dafür ja eigentlich Strafpunkte vergeben (vgl. LN 3/2012, S. 29 ff). Ich erinnere mich mit Schrecken, dass nach dem Sieg der Lettin Marija Naumova 2002 – ihr wurde in der Bühnenshow der Hosenanzug vom Leib gerissen, woraufhin sie im roten Kleidchen dastand – noch jahrelang ähnliche Kleidungs-Kunststücke auf der ESC-Bühne vollführt wurden. Oder dass Sertab Erener durch ihren Sieg ein Jahr später mit einer aufwendigen Bändchen-Choreographie für etliche NachahmerInnen sorgte, die einen ESC-Auftritt mit der Teilnahme an der Europameisterschaft für rhythmische Gymnastik mit Band verwechselten. Und die anhaltende Welle an lautem Ethnogestampfe, die Ruslana 2004 mit ihrem Sieg lostrat, hat bei mir jahrelang unangenehme Nachhallerinnerungen ausgelöst.
Dass Conchitas Sieg möglicherweise einige Länder – etwa Finnland und Polen – dazu motiviert hat, Menschen mit Behinderung ins Rennen zu schicken, ist hingegen erfreulich. Der serbische Beitrag wiederum bricht eine Lanze für Menschen, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, und enthält im Refrain die bemerkenswerten Textzeilen: Finally I can say, yes, I’m diff’rent, and it’s okay! Here I am! Und Ungarn probiert es abermals mit einem Song, der zumindest textlich aus dem Mainstream-Rahmen fällt, heuer mit einem Anti-Kriegslied. Ausdrücklich auf Conchitas Sieg beruft sich die rumänische Gruppe Voltaj, die sich durch diesen bestärkt sah, ein sozialkritisches Lied einzureichen, und mit De la capăt/All Over Again prompt den nationalen Vorentscheid gewann. Voltaj befasst sich mit dem Phänomen der modernen Gastarbeiterströme bzw. der in der Heimat bei Großeltern, anderen Verwandten oder Nachbarn zurückgelassenen Kinder, das zu einem riesigen sozialen und gesellschaftlichen Problem geworden ist. Von den rund 20 Millionen RumänInnen arbeiten mehr als drei Millionen im Ausland. Der Videoclip zum Song enthält übrigens Sequenzen aus dem preisgekrönten, bereits 2013 entstandenen und berührenden Kurzfilm Calea Dunării (Der Weg der Donau) von Sabin Dorohoi. Der rumänische Regisseur greift in seinem 13-minütigen Steifen den wahren Fall eines Buben auf, der sich aus Sehnsucht nach seinen in Wien arbeitenden Eltern mit einem Boot donauaufwärts auf die Reise machen wollte, um sie zu suchen. Er wusste, dass die Donau auf ihrem Weg nach Rumänien durch Wien fließt. Wiewohl die Beiträge aus Finnland, Polen, Ungarn, Serbien und Rumänien kaum Chancen auf einen Sieg haben, ist es toll, dass sie mit dabei sind.
Apropos Siegeschancen: Meine Favoriten sind, wie gesagt, die Balladen, die meist im Duett von augenscheinlich heterosexuellen Paaren vorgetragen werden, wobei sicherlich einige mit dem Erfolg der Common Linnets, den Zweitplatzierten von Kopenhagen, liebäugeln; ganz oben auf meiner Liste jedenfalls Norwegen, Estland, San Marino, Slowenien, Großbritannien, aber auch Tschechien. Wobei man bei Kjetil Mørland und Debrah Scarlett, deren Stimmen perfekt zu diesem dunklen und sophistikierten Text passen, vielleicht zu stark durch den tollen Videoclip beeinflusst ist, der wie von einem Drama aus der Feder Henrik Ibsens inspiriert daherkommt. Und natürlich gehört auch Italien zu meinen Favoriten – Il Volo haben ja das österreichische Pre-Voting haushoch vor Norwegen gewonnen. Und sonst? Ja, Aserbaidschan und auch Armenien. Schweden und Belgien halte ich für überschätzt. Und auch optisch ist Elnur Hüseynov eher mein Typ als Måns Zelmerlöw oder Loïc Nottet. Aber das ist eine andere (Geschmacks-)Frage.
Que(e)rschuss LN 2/2015
Nachträgliche Anmerkung
Weil ich hier vom Plagiieren schreibe und Bojana Stamenov und die Textzeile „Finally I can say, yes, I’m diff’rent, and it’s okay! Here I am!“ aus ihrem Lied „Beauty Never Lies“ zitiere, fällt mir ein:
Ich hatte 2018 sofort ein Déjà-vu-Plagiatserlebnis bei Netta Barzilai aus Israel und der ersten Textzeile aus ihrem Song „Toy“: „Look at me, I’m a beautiful creature.“
Bojana Stamenov wurde in Wien zehnte.