Welche Ehe wollen wir?
Das Referendum in Irland am 22. Mai und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA am 26. Juni in Sachen Homo-Ehe haben die entsprechenden Debatten in anderen Ländern, nicht zuletzt auch in Österreich, kurzzeitig wieder angeheizt. Speziell die US-Entscheidung schlug hohe Wellen, und vielerorts wurde ziemlich übertrieben und imperialistisch von ihrer internationalen Vorbildwirkung fantasiert, der sich viele Länder rund um den Globus nunmehr nicht länger entziehen könnten. Quasi einmal mehr: Am US-Wesen werde die Welt genesen! Dabei zeigt diese denkbar knappe „Zufalls“-Mehrheit von fünf gegen vier Stimmen, mit der das neunköpfige Richtergremium diese Entscheidung gefällt hat, bloß einmal mehr die Problematik des sogenannten „Richterrechts“, das ich an dieser Stelle schon in der Ausgabe 1/2013 (S. 15 f; vgl. auch LN 2/2013, S. 9 f) kritisiert habe: Da entscheidet ein Haufen demokratisch nicht wirklich legitimierter RichterInnen eines politisch besetzten Gremiums über Menschenrechte! Die persönliche Auffassung einer einzelnen Person (!) gibt dann letztlich den Ausschlag, ob in einer 320-Millionen-Nation die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wird oder nicht – genauso gut hätte die Entscheidung ja mit einer Stimme Mehrheit gegen die Öffnung der Ehe ausgehen können. So etwas ist doch in einer demokratischen Gesellschaft völlig unbefriedigend!
Welche reine Willkür das ist, zeigte sich dann nur drei Tage später, als am 29. Juni eine ebenso knappe Mehrheit der neun RichterInnen des US Supreme Court den Einsatz von problematischen Giftcocktails bei der Vollstreckung von Todesurteilen als verfassungs- und menschenrechtlich unbedenklich einstufte: Die fünf konservativen Richter befanden in ihrer Entscheidung, dass die verwendete Giftmischung für TodeskandidatInnen kein „substanzielles Risiko schwerer Schmerzen“ darstelle. Die vier liberalen Richter konnten sich mit ihren Bedenken nicht durchsetzen. Konkret ging es um das Beruhigungsmittel Midazolam, das unter anderem bei der Hinrichtung von Clayton Lockett eingesetzt wurde, der vor einem Jahr erst nach 43-minütigem Todeskampf gestorben war. Dass Amerikas Lesben und Schwule ausgerechnet von solchen Figuren die Lizenz zum Heiraten bekommen haben, ist wohl mehr als bloß ein Wermutstropfen.
Ganz unproblematisch sind allerdings auch Volksabstimmungen nicht, denn natürlich darf es keine Volksabstimmungen über Grund- und Menschenrechte geben! Diese sind unteilbar und unveräußerlich – egal, wie die Mehrheit darüber befinden mag. Aber gerade hier liegt eine Art Henne-Ei-Problem vor: Noch hat keine Menschenrechtskonvention bzw. kein Menschenrechtsgerichtshof der Welt die gleichgeschlechtliche Ehe (bzw. die eingetragene Partnerschaft) als Menschenrecht eingestuft. Und insofern sind (bis dahin) Referenden – im Sinne der Weiterentwicklung bürgerlicher Grundrechte – darüber also durchaus legitim. Und die bisherigen diesbezüglichen Volksabstimmungen sind ja mit einer Ausnahme „gut“ ausgegangen – in der Schweiz, in Liechtenstein, in der Slowakei und jetzt eben in Irland; nur in Slowenien ging sie schief, aber diese Panne wurde mittlerweile durch das Parlament repariert (vgl. LN 2/2015, S. 25). Und die eminente politische Bedeutung von Volksabstimmungen wurde ja jüngst in Griechenland einmal mehr unterstrichen.
Ob jedoch im Kielwasser Irlands und der USA eine Initiative für die bedingungslose Öffnung der Ehe in Österreich zweckmäßig ist, steht sehr zu bezweifeln. Denn: Wollen wir wirklich diese Ehe? Die HOSI Wien hat ja bekanntlich eine differenzierte Haltung dazu, wie dies in ihrem aktuellen, auf der Generalversammlung 2013 einstimmig angenommenen Forderungsprogramm zum Ausdruck kommt (vgl. LN 2/2013, S. 4).
Kein reiner Selbstzweck
An dieser Stelle habe ich schon mehrfach argumentiert, warum die Gleichstellung mit der Heteronorm Ehe kein reiner Selbstzweck – quasi aus Prinzip – sein kann. Denn wer sagt, dass sie das Maß aller Dinge zu sein hat? Die Ehe ist weder naturgegeben noch gottgewollt. Heterosexuelle haben zweihundert Jahre an der jetzigen rechtlichen Ausgestaltung der bürgerlichen Ehe herumgebastelt, ohne dass Lesben und Schwule auch nur ein Wörtchen dabei mitzureden gehabt hätten. Und jetzt soll unser Wohl und Wehe, unser Heil, unsere Akzeptanz davon abhängen, dass wir diese Norm „ung’schaut“ eins zu eins übernehmen? Irgendwie erinnert diese trotzige Justament-Haltung an ein kleines Kind, das einen roten Ball hat, aber unbedingt den gelben Ball des Spielkameraden haben will, um dann eh mit dem roten weiterzuspielen, nachdem es den gelben bekommen hat.
Die Vorstellung, unsere ultimative gesellschaftliche Akzeptanz hänge an der Öffnung der Ehe, ist wohl auf „beiden“ Seiten eine Illusion. Die Vehemenz, mit der konservative Kräfte die Ehe-Bastion verteidigen, weil sie fürchten, mit der Öffnung der Ehe würden gleichgeschlechtliche Beziehungen und damit Homosexualität endgültig salonfähig und anerkannt, ist genauso lächerlich wie die Verbissenheit, mit der Lesben und Schwule ihre gesellschaftliche Anerkennung und ihr irdisches Paradies an die Öffnung der Ehe knüpfen. Dieser Zusammenhang wäre vielleicht noch im 19. Jahrhundert zutreffend gewesen, aber heutzutage ist die Ehe auch für viele Heteros längst nicht mehr diese „heilige“, irrational aufgeladene Institution. Ihre Haltung zur Ehe ist mittlerweile bedeutend abgeklärter. Heute würde daher die Öffnung der Ehe auch in Österreich keinen zusätzlichen Akzeptanzschub mehr auslösen – wie ja die ausländischen Beispiele zeigen. Oder hat jemand einen solchen in den Niederlanden, in den nordischen Staaten oder in Frankreich nach der Öffnung der Ehe wahrgenommen? Eben! Wer immer noch Vorurteile hat, wird sie mit der Einführung der Ehe für alle auch nicht sofort ablegen.
Position der Stärke
Daher ist es nicht nur eine Frage der Selbstachtung und des Selbstwertgefühls, unsere Akzeptanz nicht an die Gewährung des Rechts auf Eheschließung zu knüpfen, sondern wir sind vielmehr heutzutage in der privilegierten und komfortablen Lage, ganz pragmatisch und ohne ideologische Scheuklappen abwägen zu können: Welche Vorteile bringen die Beibehaltung und Weiterentwicklung einer modernen eingetragenen Partnerschaft (EP), über die wir ja bereits verfügen, gegenüber der Öffnung einer nicht reformierten Ehe mit einem Scheidungsrecht, dem der strenge Mief der 1950er Jahre anhaftet?
Ohne Ehereform gebe es bei einer Eheöffnung mehr zu verlieren als zu gewinnen. Es gibt nicht den geringsten Grund, weitere Kröten zu schlucken (etwa die schärferen Scheidungsbestimmungen – bis zu sechs Jahre Scheidungsblockade durch eine/n Partner/in statt, wie jetzt für die EP, maximal drei Jahre), um im Gegenzug besonders bedeutsame oder relevante Rechte zu bekommen. Mit der EP haben wir, wie gesagt, ohnehin schon alle wichtigen Rechte. Ich plädiere also für einen pragmatischen Zugang – dieser verbitterte heteronorm-willfährige Dogmatismus, den ein Teil der LSBT-Bewegung an den Tag legt, stößt mich ab.
Es geht (der HOSI Wien) also keineswegs darum, die Ehe aus ideologischen Gründen grundsätzlich abzulehnen oder gar zu diffamieren, wie Jan Feddersen in seinem Einwurf auf S. 37 schreibt (diese Gruppierungen gibt es sicherlich auch), sondern letztlich ganz banal um rein taktische bzw. strategische Überlegungen, etwa: Ist es realistischer, dass die Ehe entsprechend unseren Vorstellungen nach der Öffnung für alle reformiert wird – oder sollten wir sicherheitshalber doch lieber vorher darauf bestehen – speziell, wenn damit das Ende der EP besiegelt wird? Noch einmal: Die HOSI Wien ist nicht grundsätzlich gegen die Ehe, aber wir möchten ein Eherecht, das auf der Höhe des 21. Jahrhunderts ist, und nicht eines, das mittelalterliche Züge aufweist!
Jedenfalls muss man bei einer solchen Abwägung der Vor- und Nachteile zum Schluss kommen, die Ehe in ihrer derzeitigen Form ist nicht wirklich das erstrebenswerte Gelbe vom Ei, sondern eigentlich fahren wir mit der EP besser. Sieht man sich die rund 30 Unterschiede, auf denen ständig herumgeritten wird, genauer an, stellt sich heraus, dass es sich dabei in den meisten Fällen entweder um in der Praxis vermutlich irrelevante Nebensächlichkeiten oder um Dinge handelt, bei denen wir eigentlich froh sein sollten, dass sie für die EP anders geregelt sind. Selbst die Verbannung vom Standesamt in manchen Provinzgemeinden ist ja nicht wirklich ein Drama, wiewohl halt leider für viele von großem Symbolgehalt.
Aber sonst? Etwa der Begriff „Nachname“ (EP) versus „Familienname“ (Ehe). Wollen wir uns da wirklich auf das kindische Niveau der ÖVP begeben, die in ideologischer Verbohrtheit am „Familiennamen“ festhält – wohlwissend, dass dieser längst eine Mogelpackung ist? Denn seit die Eheleute ihren jeweiligen Ledigen-Familiennamen beibehalten können, ist die Vorstellung, nach der Heirat entstünde in jedem Fall ein gemeinsamer Familienname für die neugegründete Familie, ohnehin obsolet. Also: weg mit dem Begriff „Familienname“ und Ersetzen durch „Nachname“ bzw. einfach „Name“, wie die Rubrik in allen Lichtbildausweisen, ob Reisepass, Personalausweis oder Führerschein, ohnehin längst lautet.
Oder die Heirat ab 16? Geh, bitte! 18 Jahre ist heutzutage ohnehin viel zu früh, auf jeden Fall früh genug. Die Heirat mit 16 bzw. 17 nach gerichtlicher Genehmigung und mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten diente doch historisch nur der mehr oder weniger sanften Zwangsverheiratung ungewollt schwangerer Teenager zur vermeintlichen Rettung der Familienehre. Das braucht heute kein Mensch mehr. Das kann uns bzw. der EP also gerne weiterhin gestohlen bleiben! Genauso das reichlich antiquierte Verlöbnis. Es wäre in der Tat sinnvoll und zweckdienlich, das österreichische Eherecht vor der Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare systematisch zu durchforsten und radikal zu entrümpeln – am besten mit der Vorgabe: Würde man die jeweilige Bestimmung tatsächlich noch als unbedingt nötig in ein Gesetz aufnehmen, das man heute neu zum ersten Mal ausarbeiten würde? Man würde wohl feststellen, dass es sich bei so manchen Bestimmungen um unzeitgemäße und anachronistische Relikte handelt, die bloß aus alter Gewohnheit noch nicht im Orkus der Geschichte entsorgt worden sind.
Reaktionäre Argumente
Dass ein Teil der LSBT-Bewegung diese Unterschiede in unerträglicher Weise dramatisiert, ist genauso ärgerlich wie so manches unredliche Argument. Seit neuestem wird sogar lamentiert, Kinder in Regenbogenfamilien würden mangels Eheschließungsmöglichkeit der Eltern als „uneheliche“ Kinder gelten – was für eine himmelschreiende Diskriminierung und welch unerhörtes Unrecht! Hallo – geht’s noch? Die LSBT-Bewegung als Speerspitze der finstersten Reaktion? Die Zeiten, als ledige Schwangere aus Scham und Verzweiflung auch in Österreich „ins Wasser gingen“, sind zwar noch nicht so lange, aber Göttin sei Dank endgültig vorbei. Seien wir froh, dass mittlerweile uneheliche Kinder in Österreich den ehelichen rechtlich gleichgestellt sind und niemand mehr etwas dabei findet. Heute werden in Österreich immerhin mehr als 40 Prozent der Kinder unehelich geboren! Da ist es ein argumentativer Wahnsinn, dass ausgerechnet LSBT-AktivistInnen in einer total bescheuerten Kampfrhetorik hier und heute den Status unehelicher Kinder als problematisch hinstellen und ihnen damit ein neues Stigma verpassen! Da möchte man vor lauter Fremdschämen am liebsten im Erdboden versinken!