50 Jahre nach Ende des Totalverbots homosexueller Handlungen: Rehabilitierung der Opfer jetzt!
LOSE SERIE: AUS DEM ARCHIV
In rund sechs Wochen, am 8. Juli 2021, jährt sich zum 50. Mal der Nationalratsbeschluss, mit dem das Totalverbot homosexueller Handlungen, also auch unter zustimmenden erwachsenen Frauen und Männern („einfache Homosexualität“ – § 129 I b StG), aufgehoben wurde. Das entsprechende Strafrechtsänderungsgesetz trat am 15. Tag nach seiner Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt am 2. August 1971, also am 17. August 1971 in Kraft.
Dieses Jubiläum wäre die Gelegenheit für das offizielle Österreich, sich bei allen Opfern der strafrechtlichen Verfolgung von 1945 bis 2002 zu entschuldigen und sie zu rehabilitieren, wie dies von der HOSI Wien im übrigen seit 2002 gefordert wird. Durch eine solche Geste könnten die ÖVP und ihre Abgeordneten, die sich in letzter Zeit gerne mit Regenbogenfahnen ablichten lassen (vgl. meinen Blog-Beitrag vom 19. Mai 2021), ihren warmen Worten endlich konkrete Taten folgen lassen. Und die Grünen könnten endlich beweisen, dass sie ihre Forderungen nicht ständig nur als heiße Luft ins berühmte Plastiksackerl hineinschreien, sondern ihre Koalitionspartnerin mitunter doch dazu bewegen können, über den eigenen Schatten zu springen. Dies täte nicht nur dem Koalitionsklima, sondern dem ganzen Land gut.
HOSI Wien gefordert
Auf jeden Fall ist jetzt auch die HOSI Wien gefordert, durch intensives Lobbying dafür zu sorgen, dass dieses Jubiläum würdig begangen wird und nicht ungenützt verstreicht. Es gilt, die ÖVP zu überreden, zumindest einer Entschuldigung des Parlaments zuzustimmen – wie sie der deutsche Bundestag bereits im Dezember 2000 (!) aussprach – und Justizministerin Alma Zadić mittels Entschließungsantrags den Auftrag zu erteilen, ein entsprechendes Entschädigungsgesetz auszuarbeiten – für letzteres ist die Zeit bis zum 8. Juli mittlerweile wohl zu knapp. Mit ein bisschen gutem Willen müsste die ÖVP doch dazu bereit sein.
Die HOSI Wien wiederum könnte sofort in die Lobbying-Arbeit starten, denn die Forderungen stehen ja seit 2002 in ihrem Forderungsprogramm. Hier im aktuellen Wortlaut unter der Überschrift „Rehabilitierung der Strafrechtsopfer“:
Noch bis 2002 wurden in Österreich Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung strafrechtlich verfolgt und ins Gefängnis gesperrt. Allein zwischen 1945 und 1971 wurden rund 15.000 Verurteilungen nach § 129 I b StG (Totalverbot homosexueller Handlungen sowohl zwischen Männern als auch Frauen) ausgesprochen; zwischen 1971 und 2002 waren es rund 1.500 Verurteilungen nach den §§ 209, 210, 220 und 221 StGB. Diese strafrechtlichen Sondergesetze waren menschenrechtswidrig.
Wir fordern daher eine Entschuldigung durch das Parlament und eine Rehabilitierung der Opfer, und zwar konkret eine Entschließung des Nationalrats, in der dieser
- sich zu seiner Verantwortung für die jahrzehntelange menschenrechtswidrige Unterdrückung und strafrechtliche Verfolgung von Lesben und Schwulen in Österreich bekennt;
- sich für das homosexuellen Frauen und Männern dadurch zugefügte Unrecht und Leid entschuldigt;
- alle Opfer dieser Gesetzgebung rehabilitiert und zu diesem Zweck die Möglichkeit schafft, Urteile, die gemäß § 129 I b StG sowie nach 1971 gemäß den §§ 209, 210, 220 und 221 StGB gefällt worden sind, offiziell für nichtig erklären und als Unrechtsurteile aufheben zu lassen und die Opfer entsprechend zu entschädigen – sofern es sich im Einzelfall um keine Straftatbestände handelte, die auch heute strafbar wären.
Eine solche Entschädigung soll insbesondere die beitragsfreie Anrechnung der Haftzeiten als Ersatzzeit auf die Pensionsversicherungszeit, die entsprechend verzinste Rückzahlung verhängter Geldstrafen sowie die pauschale Abgeltung für allfällige Anwalts- und Gerichtskosten und für jedes Haftmonat umfassen.
Im Rahmen dieser Entschädigung sind sämtliche sonstige Sanktionen und Maßnahmen, die gegen den erwähnten Personenkreis verhängt wurden, wie etwa die Aberkennung akademischer Grade, der Entzug von Gewerbeberechtigung oder Führerschein etc., kostenfrei zurückzunehmen bzw. aufzuheben bzw. die dafür in der Vergangenheit von den Betroffenen geleisteten allfälligen finanziellen Aufwendungen entsprechend zu ersetzen.
Der lange Weg zur Aufhebung des Totalverbots
Die ÖVP hat – was ja allgemein bekannt ist – nicht nur nach 1971 große Schuld auf sich geladen, weil sie ab den 1980er Jahren die Reform bzw. Abschaffung der 1971 als „Ersatz“ für das Totalverbot eingeführten vier diskriminierenden Strafbestimmungen mit großer Vehemenz torpediert und verzögert hat (vgl. dazu die entsprechende Abteilung hier bzw. die ausführliche Chronologie dazu). Die ÖVP hatte bereits zuvor in den 1960ern auch die Aufhebung des Totalverbots blockiert und verzögert. Nachdem sie bei der Nationalratswahl 1966 die absolute Mehrheit errungen und eine Alleinregierung gebildet hatte, wurde die geplante Reform wieder zurückgenommen und 1968 sogar eine Beibehaltung des Totalverbots vorgeschlagen.
Bereits 1953 war vom Nationalrat beschlossen worden, das Strafrecht einer eingehenden und umfassenden Reformprüfung zu unterziehen. Zu diesem Zweck wurde eine Strafrechtskommission eingesetzt, die sich folglich auch mit der Frage befasste, ob ein Totalverbot homosexueller Handlungen noch vertretbar sei. Dazu wurden die Meinungen von Experten eingeholt. Im späteren „Entwurf eines Strafgesetzbuches samt Erläuterungen (Besonderer Teil) 1964“ des Justizministeriums heißt es dazu auf Seite 188:
Die Strafrechtskommission hat sich mit der Problematik der Homosexualität eingehend befaßt. Die Protokolle der ersten und zweiten Lesung hierüber umfassen 174 Seiten, auf denen unter anderem auch die Gutachten von acht Sachverständigen aus den Gebieten der Kriminologie, der gerichtlichen Medizin und der Psychiatrie enthalten sind. In ersten Lesung haben sich zehn Mitglieder der Strafrechtskommission gegen und zwei Mitglieder für eine Strafdrohung wider die Homosexualität unter Erwachsenen ausgesprochen. Die Strafwürdigkeit gleichgeschlechtlicher Betätigung mit Jugendlichen hingegen stand dem Grund nach außer Streit. In zweiter Lesung stand ein am geltenden Recht festhaltender, sohin auch die Homosexualität unter Erwachsenen pönalisierender Gegenvorschlag zur Debatte, für den sich fünf Mitglieder der Strafrechtskommission einsetzten, während elf Mitglieder am Mehrheitsbeschluß der ersten Lesung festhielten.
1964 – Aufhebung des Totalverbots vorgesehen
Der Ministerialentwurf hielt also an der mehrheitlichen Empfehlung aus beiden Lesungen fest und sah die Abschaffung des Totalverbots vor. In Sachen Schutz der Jugend vor Unzucht wider die Natur wich der Ministerialentwurf jedoch wesentlich von der Empfehlung der Mehrheit der Kommission ab. Diese wollte nur die Verführung jugendlicher Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellen, und auch nur in jenen Fällen, bei denen der Jugendliche verdorben würde. Dies wurde vom Ministerium verworfen. Die Tatbestände des Verführens und Verderbens seien schwer zu definieren und in der Praxis schwierig festzustellen, außerdem würde dadurch der Erpressung – vor allem durch Strichjungen – Tür und Tor geöffnet (S. 192 f), so die Hauptargumente. Der Entwurf sah daher vor, die Unzucht wider die Natur mit männlichen Jugendlichen (unter 18 Jahren) generell unter Strafe zu stellen. In Sachen Prostitution folgte das Ministerium der Kommissionsempfehlung. Und so lautete der damals sehr fortschrittliche Wortlaut der entsprechenden Bestimmung („Unzucht wider die Natur“):
§ 244 (1) Eine Person männlichen Geschlechts, die mit einem Jugendlichen gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Ebenso wird eine Person männlichen Geschlechts bestraft, die gewerbsmäßig gleichgeschlechtliche Unzucht treibt oder sich dazu erbietet. (Seite XXVII)
Zusätzlich sah der Entwurf – in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der Strafrechtskommission – das Verbot der „Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht“ vor. Der vorgeschlagene § 256 lautete:
Wer öffentlich zu gleichgeschlechtlicher Unzucht auffordert oder gleichgeschlechtliche Unzucht in einer Art gutheißt, die geeignet ist, solche Unzuchtshandlungen nahezulegen, wird, wenn er nicht als an der Unzuchtshandlung Beteiligter (§ 11) mit strengerer Strafe bedroht ist, mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 50.000 S bestraft. (S. XXVIII)
1966 – Aufhebung ja, aber höheres Schutzalter auch für Lesben
1966 legte das Justizministerium einen neuen „Entwurf eines Strafgesetzbuches samt Erläuternden Bemerkungen“ vor. Der entsprechende Paragraf zur Homosexualität hatte darin die Nummer 228 erhalten und lautete wie folgt („Unzucht mit einer Person des gleichen Geschlechts“):
§ 228 (1) Wer mit einer minderjährigen Person gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, es sei denn, daß der Täter ein Jugendlicher ist und seinen Partner nicht zur Tat verführt hat.
(2) Ebenso wird eine Person bestraft, die gewerbsmäßige, gleichgeschlechtliche Unzucht treibt oder sich dazu erbietet. (S. XLV)
Der neue Vorschlag sah damit auch die Strafbarkeit weiblicher gleichgeschlechtlicher Unzucht vor. Eine weitere Verschärfung im Vergleich zum Entwurf aus 1964 war die nunmehr vorgesehene Schutzaltersgrenze von 21 Jahren. Hierzu sei ausgeführt, dass im § 83 definiert war, dass unmündig ist, wer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat; jugendlich, wer das 14., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hat; und minderjährig, wer das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (S. XXIII).
Der Entwurf sah nach wie vor ein Werbeverbot vor, und zwar im § 240 (S. XLVI f).
Aber genauso wenig wie der Ministerialentwurf aus 1964 wurde jener aus 1966 weiter verfolgt. 1964 regierte noch eine große Koalition zwischen ÖVP und SPÖ – wie quasi seit Kriegsende und noch bis 1966, als die ÖVP, wie erwähnt, bei der Nationalratswahl die absolute Mehrheit errang und in der Folge eine Alleinregierung bildete.
1968 – ÖVP für Fortbestand des Totalverbots
1968 legte die ÖVP-Alleinregierung einen neuen „Entwurf eines Strafgesetzbuches samt Erläuternden Bemerkungen“ vor. Ihm merkte man den Einfluss des politischen Katholizismus nur allzu deutlich an. Er fiel weit hinter den Vorschlag aus 1964 zurück und sah die Beibehaltung des Totalverbots vor. Die nunmehr vorgeschlagene Bestimmung – „Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechtes“ – lautete wie folgt:
§ 228. (1) Wer mit einer anderen Person gleichgeschlechtliche Unzucht treibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.
(2) Wer jedoch nach Vollendung des einundzwanzigsten Lebensjahres gleichgeschlechtliche Unzucht mit einer minderjährigen Person treibt und wer gleichgeschlechtliche Unzucht gewerbsmäßig treibt oder sich dazu erbietet, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. (S. 36)
Zur Begründung, warum man wieder total hinter die liberalen Vorschläge von 1964 und 1966 zurückgefallen war, werden der berüchtigte Strafrechtler Roland Graßberger (1905–1991) und seine reaktionäre „Experten“-Meinung herangezogen, der in den „Erläuternden Bemerkungen“ nochmals breiter Raum eingeräumt wird (S. 376 ff). Mit den homophoben Ansichten Graßbergers befasste sich übrigens ein Beitrag in den LN 4/1991 aus Anlass seines Ablebens.
Von den in der Strafrechtskommission tätigen Strafrechtsexperten hat sich übrigens nur ein einziger für die Straflosigkeit einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter Erwachsenen ausgesprochen, von den ärztlichen Sachverständigen waren hingegen fünf von sieben für die Straffreiheit eingetreten. Unter den zwei, die sich für die Beibehaltung des Totalverbots ausgesprochen hatten, war übrigens Hans Asperger (1906–1980).
Aber auch diese Regierungsvorlage wurde schließlich nie zur Abstimmung gebracht.
Kleine Strafrechtsreform 1971
Bei der Nationalratswahl am 1. März 1970 errang Bruno Kreisky (1911–1990) die relative Mehrheit und bildete eine von der FPÖ geduldete Minderheitsregierung. Die Strafrechtsreform wurde sofort in Angriff genommen. In Sachen Homosexualität wurde die Regierungsvorlage aus dem konservativ-klerikalen Intermezzo der ÖVP-Alleinherrschaft verworfen. Man besann sich wieder auf die ursprünglichen Entwürfe aus 1964 und 1966.
Am 2. Juni 1970 kam die Regierungsvorlage mit Schutzalter 21, Prostitutions- und Werbeverbot in den Nationalrat. Am 18. Juni begann der Justizausschuss mit seiner Arbeit. Die Gegner machten massiv mobil, vor allem der Katholische Familienverband. Der Justizausschuss setzte zum Thema Homosexualität einen eigenen Unterausschuss ein. Es fand eine Expertenanhörung u. a. mit Juristen und Medizinern statt. Graßberger war wieder mit von der Partie.
Graßbergers verzweifelte Durchhalteparolen
Graßberger brachte seine „Expertise“ zudem im Rahmen einer Enquete des Katholischen Familienverbands ein. Liest man seine Ergüsse heute, ist man fassungslos, welche unwissenschaftlichen Phrasen und Gemeinplätze damals als Fachwissen durchgehen konnten:
Schrankenlose sexuelle Freiheit führt daher nicht minder zum Persönlichkeitsverlust wie der aus der Fehlleitung des Trieberlebnisses resultierende Verzehr sich gegenseitig bekämpfender Impulse. Dazu kommt, daß mit dem Fallen jedes der Triebbefriedigung durch die Sittenordnung gesetzten Schrankens die Bereitschaft wächst, auf sexuelle Reize anzusprechen. Das führt zur Ausweitung des Bereiches, den das sexuelle Erleben im Bewußtsein für sich in Anspruch nimmt. Damit werden aber auch die von den sexuellen Bewußtseinsinhalten ihrerseits ausgehenden Reize vervielfältigt. Der Sexwelle folgt zwangsläufig die Pornowelle. Sie führt die Einengung der Interessen auf das sexuelle Erleben einen Schritt weiter ins rein Animale. Damit ist der Weg zur geistigen Verarmung breiter Massen freigelegt. (…)
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, daß das, was heute von den Fürsprechern eines weitgehend liberalisierten Sexualstrafrechts als Weisheit letzter Schluß angepriesen wird, nichts Neues ist. Soweit wir die Geschichte der zivilisierten Menschheit überblicken, können wir feststellen, daß es immer wieder Perioden einer relativ strengen Regelung des sexuellen Lebens gegeben hat, denen solche einer weitgehenden Enthemmung folgten. Daß diese fast immer mit Zeiträumen eines nationalen Niedergangs zusammenfielen, ist eine für uns schmerzvolle Nebenerkenntnis, die nicht dazu verleiten darf, das Übel in seinen Symptomen zu bekämpfen. (…)
Graßberger plädierte auch vehement für die Bestrafung gleichgeschlechtlicher Unzucht zumindest zwischen Jugendlichen, selbst wenn „die einfache Unzucht zwischen erwachsenen Männern unbestraft bleiben soll“, womit er sich offenbar bereits abgefunden zu haben schien. Dazu führte er näher aus:
Zunächst ist davon auszugehen, daß der Jugendliche grundsätzlich fähig ist, die Unerlaubtheit gleichgeschlechtlicher Betätigungen einzusehen. Wo ihm diese Einsicht fehlt, gibt § 10 des Jugendgerichtsgesetzes genügend Spielraum zur Berücksichtigung der individuellen Reife. Darüber hinaus ist festzuhalten, daß die zwischen Jugendlichen praktizierte gleichgeschlechtliche Unzucht an sich keineswegs weniger geeignet ist, eine Fehlorientierung herbeizuführen als der homosexuelle Umgang mit Erwachsenen. Sie führt nur deswegen seltener zu Dauerfolgen, weil für den beteiligten Jugendlichen im Gegensatz zum erwachsenen Homosexuellen die gleichgeschlechtliche Praxis meist nur vorübergehende Verirrung auf dem Weg von der Selbstbefriedigung zur heterosexuellen Partnerschaft ist. Wo aber gefestigte homosexuelle Interessen am Werk sind, kann ein einziger in die Gemeinschaft Gleichaltriger eingedrungener Jugendlicher die Entwicklung seiner Altersgenossen genauso gefährden wie ein Erwachsener. Hat das gleichgeschlechtliche Verhältnis lange genug gedauert, um sich daran zu gewöhnen, dann ist die von ihm ausgehende Prägung in jedem Fall von nachhaltiger Wirkung.
Graßberger gab sich auch insofern nicht geschlagen, als er die ansteckende Wirkung der Homosexualität fürchtete. Er plädierte für eine Bestimmung, wie sie in Spanien unter Franco ins Strafrecht aufgenommen wurde:
Der Regierungsvorlage ist insofern zuzustimmen, als sie davon ausgeht, daß die Allgemeinheit unter der gleichgeschlechtlichen Unzuchtshandlung Erwachsener an sich nicht leidet. Das ist aber nur so lange der Fall, als diese nicht nach außen tritt und damit zu einem Faktor wird, der die Mode bestimmt. Wie nachhaltig die Mode das sexuelle Verhalten steuert, zeigt nicht nur die Geschichte, sondern viel anschaulicher die Gegenwart.
Zur Bannung dieser Gefahr hat das spanische Strafrecht die vielleicht glücklichste Lösung gefunden. Bei grundsätzlicher Straffreiheit der gleichgeschlechtlichen Unzucht zwischen Erwachsenen schreitet es dann ein, wenn diese in einer Weise geübt wird, daß die Öffentlichkeit daran Ärgernis nimmt. Das liegt nach spanischer Rechtsauffassung nicht nur dann vor, wenn der Unzuchtsakt in der Öffentlichkeit vollzogen wird, sondern auch dann, wenn er in einer Weise geübt wird, die dazu führt, daß die Öffentlichkeit von ihm, wenn auch nachträglich erfährt. Damit ist ein Zustand erreicht, der weitgehend der schon heute in Österreich geübten Praxis entspricht. Solange kein Jugendlicher gefährdet ist, spioniert die Sicherheitsbehörde nicht dem nach, was sich hinter geschlossenen Türen ereignet.
Sinn meiner Ausführungen war es vor allem, auf die Notwendigkeit des strafrechtlichen Schutzes einer die Sexualität zügelnden Sittenordnung zu verweisen. Entscheidend ist, was wir im Kampf um diese erreichen. Das Strafrecht kann nie an die Stelle der sittlichen Überzeugung treten, wir können aber von ihm den Schutz einer Sittlichkeit verlangen, die das sexuelle Begehren in die Schranken weist, die dem Gedeihen der Allgemeinheit unerläßlich sind. In diesem Rahmen gilt es vor allem zu verhindern, daß durch ein voreiliges Aufgeben der vom Strafrecht bisher gehaltenen Positionen eine Änderung in den tragenden Grundsätzen der sexuellen Ordnung vorgetäuscht wird. Daß wir unter den gegebenen Umständen vielleicht nicht mehr erreichen als eine hinhaltende Verteidigung bis zu dem Augenblick, in dem es von selbst zu einer Konsolidierung der zur Zeit gestörten Verhältnisse kommt, darf uns nicht irre werden lassen an den Wertungen, die die abendländische Kultur und vielfach nicht nur diese geprägt haben.
Diese Durchhalteparolen sind fast schon rührend. Mit „einer Konsolidierung der zur Zeit gestörten Verhältnisse“ meinte Graßberger wohl, dass die Zeit der sozialistischen Regierung wieder vorbeigehen und sich die gottgewollte Ordnung einer ÖVP-Regierung irgendwann wieder einstellen werde.
§ 129 I b wird schließlich abgeschafft
Justizminister Christian Broda (1916–1987) und die SPÖ zogen die Kleine Strafrechtsreform durch. Das Totalverbot wurde aufgehoben. Aufgrund der Expertenmeinungen wurde das Mindestalter schließlich bei 18 Jahren festgelegt. Auf den letzten Metern forderte die ÖVP im Mai 1971 noch ein Vereinsverbot (Stichwort „Konvertikelbildung“, vgl. meinen Blog-Beitrag vom 11. April 2021). Zum höheren Schutzalter, zum Prostitutions- und zum Werbeverbot, die bereits in den Entwürfen 1964 und 1966 vorgesehen waren, kam dank der ÖVP somit als vierte Sonderbestimmung noch ein Vereinsverbot hinzu. Broda entschärfte es allerdings insofern, als der Tatbestand nur erfüllt sein konnte, wenn eine Verbindung Homosexueller geeignet war, öffentliches Ärgernis zu erregen (vgl. meinen Text über die Anfänge der HOSI Wien hier).
Besonders detailreich und spannend hat HANS-PETER WEINGAND diese Endphase im Kampf um die Abschaffung des Totalverbots in einem 2011 veröffentlichten Aufsatz beschrieben – siehe dazu den Literaturhinweis am Ende dieses Textes.
Am 8. Juli 1971 hob der Nationalrat den § 129 I b schließlich auf. Dieser hatte seit 1852, also fast 120 Jahre, die Zeiten und alle Zeitenwenden unverändert überdauert – die Monarchie, zwei Weltkriege, die Erste Republik, die Nazi-Zeit und die Besatzungszeit. Viele Menschen vieler Generationen haben unter diesem Verbot gelitten, es hat viele Existenzen und Leben zerstört. Es war ein langer Kampf, dieses Verbot loszuwerden. Und wäre es nach der ÖVP gegangen, wäre das auch 1971 noch nicht passiert. Die Aufhebung des Verbots haben wir nur der SPÖ (und ja, der FPÖ) zu verdanken, und da besonders herausragenden Persönlichkeiten wie Kreisky, Broda und Peter Schieder (1941–2013). Das sollten wir auch nie vergessen. Die ZeitgenossInnen haben es jedenfalls Kreisky und seinem Team gedankt – bei den vorgezogenen Nationalratswahlen am 10. Oktober 1971 errang Kreisky die absolute Mehrheit und konnte so eine Alleinregierung bilden, die nicht von der Unterstützung einer anderen Partei abhängig war. Kreisky sollte noch zweimal bei Nationalratswahlen die absolute Mehrheit gewinnen, wodurch die SPÖ bis 1983 allein weiterregieren konnte.
Literaturhinweis:
Hans-Peter Weingand: „Auch in Österreich wird der Nacht einmal der Morgen folgen.“ Die Beseitigung des Totalverbots homosexueller Handlungen in Österreich durch die Strafrechtsreform 1971, in: Martin Gössl: Von der Unzucht zum Menschenrecht. Eine Quellensammlung zu lesbisch-schwulen Themen in den Debatten des österreichischen Nationalrats von 1945 bis 2002. Edition Regenbogen 4, Wien u. a. 2011, S. 9–55. (Das Buch ist in der Buchhandlung Löwenherz erhältlich.)
Weingands Aufsatz – mit einem Beitrag von Peter Schieder – ist das ultimative Standardwerk zu diesem Thema, ein echter Geheimtipp. Der Autor hat sich nicht nur naheliegende Quellen wie die Gesetzesvorschläge und Nationalratsdebatten näher angesehen, sondern auch die internen Protokolle des Justizausschusses sowie den Nachlass Christian Brodas durchforstet, in dem sich sämtliches Material zum Thema befand, das der legendäre Justizminister im eigenen Büro angesammelt hatte, inklusive persönliche Briefe von Schwulen an Broda. Besonders spannend sind die Unterlagen, die die heftigen Interventionen der römisch-katholischen Kirche dokumentieren, und die Materialien der Expertenkommission kurz vor Beschlussfassung 1971.