Aktionismus
Einleitung
Aktionismus habe ich meist als Aktivist der HOSI Wien ausgelebt – er wurde ihr durch die Ereignisse bei den Wiener Festwochen alternativ 1980, die ich in meinem Bericht über die Anfänge des Vereins schildere, quasi in die Wiege gelegt: Der gerade erst gegründete Verein musste zu unkonventionellen Mitteln greifen, um sich Gehör zu verschaffen und durchzusetzen. In den vier Jahrzehnten folgten zahlreiche aktionistische Interventionen, die im Namen der HOSI Wien durchgeführt wurden (in den LN 5/2009, S. 12 ff widmete ich übrigens eine Folge meiner fünfteiligen Serie „30 Jahre HOSI Wien“ ihrem Aktionismus).
Aktionismus bestand aber nicht nur aus geplanten direct actions, mit denen bewusst provoziert und Grenzen überschritten wurden, sondern war bei einigen Gelegenheiten (etwa bei den erwähnten Festwochen alternativ oder beim Aktenwerfen bei Gericht 1990) eine spontane und quasi erzwungene Gegenreaktion auf Maßnahmen der Staatsgewalt und Politik, die als unterdrückerisch oder ungerecht empfunden wurden.
Aktionismus war – und ist – darüber hinaus ein durchaus probates Mittel, um Aufmerksamkeit zu erregen, das Schweigen und die Ignoranz der Medien und der Öffentlichkeit zu durchbrechen und den Forderungen der Bewegung gegenüber der untätigen Politik lautstark Nachdruck zu verleihen. Viele „ganz normale“ Aktivitäten der HOSI Wien hatten aus diesem Grund einen aktionistischen Charakter, etwa ihre beiden Aktionen Standesamt – bei der Warmen Woche 1989 und im Wiener Rathaus am 16. November 1994 (vgl. LN 1/1995, S. 10 ff) – sowie einige Kundgebungen im Gedenken an die NS-Opfer, meist bei den alljährlichen Befreiungsfeiern in Mauthausen, z. B. 1990, 2003 oder 2005.
Arbeitsteilung
„Delikatere“ oder meinetwegen kontroversielle Aktionen, die nicht unter der Flagge der HOSI Wien segeln sollten, wurden entweder einfach von Einzelpersonen oder durch formlose und extra dafür ins Leben gerufene Gruppierungen geplant und durchgeführt. Meist war durch die handelnden ProtagonistInnen das Naheverhältnis zur HOSI Wien aber ohnehin nicht zu verleugnen.
Die Flitzeraktion von FLORIAN SOMMER und ROBERT HERZ beim Neujahrskonzert 1982 war die erste dieser aktionistischen Interventionen. Die beiden schildern sie ausführlich in einem Interview in den LN 2/1982, S. 5 ff. Siehe auch den separaten Beitrag über diese Aktion hier.
Mit einer spektakulären Störaktion ging es am 18. Februar 1982 auf dem Opernball weiter: Vier AktivistInnen, zwei Frauen und zwei Männer, werfen Flugblätter in den Ballsaal, lärmen mit Trillerpfeifen, entrollen Transparente, die jedoch ebenso blitzartig entfernt werden wie die AktivistInnen: Wegen der Anwesenheit von Prinz Philip, Gemahl von Königin Elizabeth II., sind rund 1000 Kriminalbeamte in Zivil auf dem Ball im Einsatz. Über die Aktion, die nicht ganz so gelang, wie sie geplant war, berichteten RUDOLF KATZER in den LN 2/1982, S. 11 ff, und HERBERT PUCHINGER im Falter # 6 vom 26. März 1982. Von den beiden Aktivistinnen sind nur die Vornamen überliefert: ANDREA und KATARINA.
Rosa Wirbel
Am Osterwochenende 1982, 10.–12. April, wurden in Wien Plakate mit dem Titel „Schwul – na und?“ affichiert, auf denen fünf Prominenten positive Äußerungen zur Homosexualität in den Mund gelegt wurden (siehe Faksimile). Es ist das erste Mal, dass in diesem Zusammenhang der Name einer Aktionsgruppe auftaucht: Rosa Wirbel, wie die Wochenpresse am 13. April 1982 berichtete – siehe ebenfalls nebenstehendes Faksimile. Die in dieser Kurzmeldung erwähnte Aktion in Straßburg fand übrigens nicht statt (vgl. LN 3/1982, S. 29 f). Das Plakatsujet zierte auch die Rückseite der LN-Ausgabe 3/1982.
Doch kaum hatte der Aktionismus einen Namen, erlahmte er. Es sollten mehr als sechs Jahre vergehen, bis der Rosa Wirbel wieder in Erscheinung trat! Danach firmierten allerlei Aktionen unter dem Namen Rosa Wirbel, wiewohl die ProtagonistInnen nicht immer dieselben waren. Es stand auch keine – nicht einmal lose – Gruppe dahinter. Alle, die es wollten, konnten ihre Aktionen unter dem Titel Rosa Wirbel durchführen. Ich widme dem Rosa Wirbel hier ein eigenes Kapitel.
Später wurden dem Rosa Wirbel auch die Aktionen beim Neujahrskonzert und am Opernball zugeordnet, was indes historisch falsch ist, denn zum Zeitpunkt der Durchführung der beiden Aktionen war weder vom Rosa Wirbel die Rede noch existierte eine Gruppe dieses Namens. Die Darstellung im Katalog zur Ausstellung geheimsache:leben – Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts (Wien 2005) trifft daher keinesfalls zu. Dort heißt es auf S. 44, Florian Sommer habe 1982 diese Aktionistengruppe begründet. Ähnlich irreführend und unzutreffend ist die diesbezügliche Formulierung in der Publikation Stonewall in Wien 1969–2009 (S. 16 – unter der falschen Zwischenüberschrift „Rosa Winkel“, gemeint ist „Rosa Wirbel“).
Rosa Lilla Villa
Das nächstes Ereignis in der Geschichte des schwul/lesbischen Aktionismus war die Besetzung eines abbruchreifen Gebäudes der Gemeinde Wien an der Linken Wienzeile. Eigentlich erfolgte die Besetzung eher schleichend und wenig spektakulär ab April 1982, aber ihre Signifikanz und Essenz rechtfertigen die Einordnung unter Aktionismus. Und sie war, gemessen an ihren Auswirkungen, jedenfalls die größte und vor allem nachhaltigste aller „aktionistischen“ und unkonventionellen Aktivitäten der österreichischen Bewegung, immerhin besteht die RLV bald 40 Jahre. Die Informations- und Beratungsstelle Rosa Lila Tip wurde schließlich am 15. November 1982 eröffnet. Florian Sommer und IRMGARD „TISSA“ KLAMMER erzählen die Gründungsgeschichte der Villa ausführlich in den LN 2–3/1983, S. 22 ff.
Aktenwerfen bei Gericht
Das spontane, nicht geplante „Aktenwerfen“ bei einer Verhandlung am Bezirksgericht Wien-Josefstadt gegen die HOSI Wien nach § 220 StGB („Werbung für gleichgeschlechtliche Unzucht“) am 20. März 1990 habe ich bereits erwähnt. Darüber habe ich einen eigenen Beitrag für diese Sektion „Aktionismus“ verfasst.
ACT UP Wien
Anfang der 1990er Jahre gründeten einige HOSI-Wien-Aktivisten eine ACT-UP-Gruppierung nach internationalem Vorbild. Getreu dem Motto „Silence = Death“ (Schweigen = Tod) führte sie einige Aktionen im AIDS-Bereich durch. Diese habe ich in einem eigenen Kapitel zusammengefasst.
Bischofs-Outing 1995
Dieses war wohl die spektakulärste Aktion. Obwohl zuerst als eine von der HOSI Wien geplante Aktion angekündigt, wurde letztlich beschlossen, das Outing von vier österreichischen Bischöfen am 1. August 1995 im Sinne der vorhin erwähnten Arbeitsteilung an eine zu diesem Zweck ins Leben gerufene Gruppe auszulagern – heute würde man das wohl als „Outsourcing“ bezeichnen. Über diese Aktion habe ich ebenfalls ein eigenes Kapitel verfasst.
Botschaftsbesetzung
Am 23. März 2000 verschafften sich vier beherzte HOSI-Wien-AktivistInnen, nur mit einer Himbeer-Bombe von der Aïda bewaffnet, Zutritt zur portugiesischen Botschaft im Opernringhof in Wien, um diese friedlich zu besetzen. Auch darüber habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben.