Neujahrskonzert 1982
Die Urmutter des schwulen Aktionismus in Österreich war die Flitzeraktion beim Neujahrskonzert 1982: FLORIAN SOMMER und ROBERT HERZ stürmten nackt auf die Bühne im Musikvereinssaal und entrollten ein Transparent. Blöderweise wurde ausgerechnet (allerdings wie vom ORF von vornherein geplant) zu dem Zeitpunkt eine Balletteinlage eingespielt, und so konnten nur die ZuschauerInnen im Saal, aber nicht die Millionen vor den TV-Geräten in aller Welt die Aktion live mitverfolgen (vgl. LN 1/1982, S. 5) – siehe Fotostrecke am Ende dieses Beitrags.
Mit dieser Aktion hatte ich zwar nur ganz am Rande zu tun, aber ich möchte ihr auf meinem Website diesen Beitrag widmen, weil später Falschinformationen darüber verbreitet und immer weiter tradiert wurden und teilweise bis heute kursieren.
In die Welt gesetzt hat sie RUDOLF KATZER, Urgestein der Bewegung, Mitbegründer der HOSI Wien und im Vereinsjahr 1981/82 als Kassier Mitglied des gewählten Vorstands, später Mitbesetzer des Hauses an der Linken Wienzeile, das dann zur Rosa Lila Villa wurde. Zum 15. Geburtstag der RLV verfasste Rudi einen „zeitlichen Zirkelschlag“ in der vierseitigen Publikation zum Jubiläum, die u. a. dem XTRA! Nr. 11/1997 beigeheftet war. Darin behauptete er, die HOSI Wien sei „auf Tauchstation“ gegangen, als Florian, ebenfalls ein Urgestein der Bewegung und Gründungsmitglied der HOSI Wien (vgl. „Die Anfänge“ hier), die Aktion beim Neujahrskonzert plante. Rudi hat mir inzwischen eine Stellungnahme dazu geschickt, die ich diesem Text als „nachträgliche Anmerkungen“ gerne anschließe.
Rudis Vorwurf traf indes überhaupt nicht zu, ganz im Gegenteil! Also verfasste ich eine Replik dazu, die als Art Brief („Lieber Rudi Katzer!“) in den LN 1/1998, S. 41, erschien. Ich fand Rudis Behauptung unfair gegenüber all jenen aus der HOSI Wien, die die beiden Flitzer sehr wohl unterstützt hatten: Die teuren und kurzfristig nur sehr schwer auf dem Schwarzmarkt zu erwerbenden Eintrittskarten wurden von JOHANNES WEIDINGER besorgt und bezahlt, der zu dem Zeitpunkt als Schriftführer ebenfalls Vorstandsmitglied der HOSI Wien war. DIETER SCHMUTZER, Generalsekretär des Vereins, traf sich mit Florian, der noch nie im Musikvereinsgebäude war, um ihm haarklein die Örtlichkeiten zu schildern. Auch ich saß vor der Aktion konspirativ mit Florian im Wiener Café Votiv zusammen, um die Aktion zu besprechen. Und Vize-Obmann REINHARDT BRANDSTÄTTER telefonierte nach der Festnahme der beiden Flitzer sofort mit dem Polizeikommissariat am Deutschmeisterplatz, wohin Florian und Robert gebracht worden waren – auf dass ihnen ja kein Haar gekrümmt werde.
Noch am selben Nachmittag schickte die HOSI Wien eine Presseaussendung aus, in der sie für gewaltfreie Aktionen wie diese ausdrücklich „Verständnis zeigt“. Der Wortlaut der Aussendung wurde auch in den LN 1/1982, S. 5, veröffentlicht (siehe auch nebenstehendes Faksimile) – wo auch ein ausführliches Interview mit den beiden Flitzern erschien. Eine Spendenaktion wurde ebenfalls initiiert und die Nummer des Spendenkontos veröffentlicht. Von „Tauschstation“ oder Distanzierung kann daher wohl keine Rede sein. Die Unterstützung war nicht einmal klammheimlich, sondern ziemlich offen.
WOLFGANG FÖRSTER berichtete die Geschichte später, 2001, wie folgt: Dahinter stand zunächst freilich eine beinahe genial zu nennende Doppelstrategie der HOSI: Einerseits wollte diese nämlich ihre konservativeren Mitglieder nicht verärgern und mühsam aufgebaute Kontakte zu Politikern nicht gefährden; also beginnt die seriös-sachlich gehaltene Presseaussendung mit der glatten Lüge „Wie wir aus den Rundfunknachrichten erfahren haben…“ Andererseits war die Aktion natürlich mit den Vorstandsmitgliedern im Detail abgesprochen gewesen, ja mehr noch: Man hatte sicherheitshalber sogar eine gemeinsame Flucht mit Asylansuchen in der holländischen Botschaft vorbereitet… (in: WOLFGANG FÖRSTER/TOBIAS G. NATTER/INES RIEDER (Hg.): Der andere Blick. Lesbischwules Leben in Österreich. Eine Kulturgeschichte. Wien 2001; S. 220).
Die hier von Wolfgang Förster beschriebene Strategie sollte übrigens auch bei den meisten späteren spektakulären Aktionen angewendet werden, etwa bei der Besetzung des Büros von ÖVP-Familienministerin Marilies Flemming am 1. Dezember 1988 oder bei meinem Bischofs-Outing am 1. August 1995.
Mein offener Brief an Rudi in den LN war eingebettet in eine Replik auf einen längeren Beitrag von ANDREAS BRUNNER im Falter Nr. 43/1997, in dem er sich an einer Analyse der Lesben- und Schwulenbewegung in Österreich versuchte und dabei einige doch eher abstruse Theorien aufstellte. Während ich zwei Falter-Ausgaben später (Nr. 45/1997) darauf replizierte, antwortete Andreas auf meinen LN-Beitrag mit einem Leserbrief, der in der LN-Ausgabe 2/1998, S. 7, abgedruckt wurde. Darin warf er mir vor, in meinem Brief an Rudi Katzer das „peinliche und entlarvende Interview mit den Beteiligten in den LN vergessen“ zu haben (was indes nicht zutraf, ich hatte es erwähnt). Andreas spielte auf diese Passagen an, die er offenbar als Distanzierung (miss)verstand (das gesamte Interview ist hier nachzulesen):
LN: Die Medien sind ja ganz groß eingestiegen, besonders die Kronen-Zeitung. Wie kommt es, daß ihr dort als Vertreter der Homosexuellen Initiative genannt werdet?
FLORIAN: Da bin ich vielleicht der falsche Interview-Partner.
LN: Es hätte ja sein können, daß ihr euch als Vertreter der HOSI ausgegeben habt.
FLORIAN: Es liegt mir wirklich nichts daran, mich mit diesem Titel zu schmücken.
Auf diesen Leserbrief musste ich wiederum antworten (S. 7 f), um einige Missverständnisse klarzustellen bzw. auszuräumen.
„Wiederholungstäter“
Ich schildere diese Dinge hier so ausführlich, weil besagte Behauptungen auch später – und diesmal wider besseres Wissen – wiederholt wurden. Und dabei handelt es sich tatsächlich um Manipulation und Geschichtsfälschung.
In Schwules Wien, dem von Andreas gemeinsam mit HANNES SULZENBACHER 1998 herausgegebenen Reiseführer durch die Donaumetropole steht folgender Satz zur Neujahrskonzertaktion: Vor allem die sattsam bekannte Kronen-Zeitung zerriß sich das Maul, die ernsthaften Politschwulen aus der HOSI Wien taten eher verstört als begeistert. So ein Quatsch! – siehe oben. Ich rezensierte das Buch übrigens in den LN 3/1998, S. 34 f.
Mehr als zehn Jahre später wurde die Sache abermals aufgewärmt. In der Publikation zum QWIEN-Projekt Stonewall in Wien 1969–2009 wurde Wolfgang Försters oben zitierte Darstellung wie folgt umgedeutet: Obwohl der Vorstand eingeweiht gewesen war, distanzierte sich die HOSI Wien offiziell von der Aktion, weil man rechtliche Schritte fürchtete und weil ein Teil der Mitglieder sich mit derart umstrittenen aber öffentlichkeitswirksamen Aktionen nicht identifizieren konnte. (S. 16)
Anzunehmen, dass die HOSI Wien als Verein durch diese Flitzeraktion rechtliche Schritte zu befürchten gehabt hätte, ist Unsinn. Abgesehen davon: Als hätte sich die HOSI Wien vor rechtliche Konsequenzen je gefürchtet oder damit einschüchtern lassen – ihre ganze Geschichte legt eindrücklich Zeugnis diesbezüglich ab.
An anderer Stelle in dieser Publikation Stonewall in Wien 1969–2009 wird Rudi Katzer interviewt und mit der suggestiven Aussage Auch die Lambda-Nachrichten haben negativ berichtet (kein Fragezeichen) konfrontiert, worauf er zu Protokoll gibt: Ja, als Leserbriefe, die in Wahrheit aus dem Vorstand gekommen sind. Artikel gab’s keine negativen. (S. 14). Hier hat Rudi offensichtlich die eigene Erinnerung einen Streich gespielt, denn die LN haben keinen einzigen Leserbrief zu dieser Aktion veröffentlicht, was eigentlich leicht zu überprüfen gewesen wäre.
Nachträgliche Anmerkungen von Rudolf Katzer
Lieber Kurt,
ich schätze Deine Bemühungen um eine unverfälschte Geschichtsschreibung. Auch mir war es immer ein Anliegen, die Geschichte der Schwulenbewegung wahrheitsgemäß wiederzugeben. Umso mehr schmerzt es mich, Auslöser einer unrichtigen und verzerrenden Darstellung der Hintergründe zum Aktionismus beim Neujahrskonzert 1982 von Florian Sommer und Robert Herz gewesen zu sein, die sich über die vielen Jahre – zumindest teilweise – offenbar tradiert hat.
In meiner damalig grenzenlosen Naivität habe ich nachgeplappert, was ich von vermeintlich gut informierten guten Freunden erfahren hatte und hätte damals niemals damit gerechnet, dass meine Aussagen eine derart anhaltende Wirkung haben könnten!
Allein schon die Redewendung „auf Tauchstation gehen“ habe ich vorher und nachher mit Sicherheit in keinem anderen Zusammenhang jemals verwendet und ausschließlich im Zusammenhang mit dem angeblichem Verhalten oder mit Äußerungen von einzelnen Vorständen der HOSI im Vorfeld der Aktion. Das gehörte vorher eindeutig nicht zu meinem Wortschatz, und daher bin ich mir heute noch so sicher, dass ich das aufgeschnappt und – wie gesagt – peinlicherweise nachgeplappert habe. Ich bedauere das zutiefst.
Was Wolfgang Förster geschrieben hat, dass „sicherheitshalber sogar eine gemeinsame Flucht mit Asylansuchen in der holländischen Botschaft“ vorbereitet worden sei, ist mir übrigens im Zusammenhang mit der Neujahrskonzert-Aktion auch neu! Allerdings war ich etwas später in die Planung einer anderen Aktion, nämlich einer „Flucht“ in die – (bzw. „Besetzung“ der) holländischen Botschaft involviert, mit der Idee, öffentlichkeitswirksam Asyl zu beantragen und damit auf die diskriminierende Gesetzeslage in Österreich aufmerksam zu machen. Vielleicht hat auch das zur Entstehung jener unrichtigen Gerüchte beigetragen?
Dass Johannes Weidinger die Karten zum Neujahrskonzert besorgt und gesponsert hatte, wusste ich natürlich. Aber von der Beschreibung der räumlichen Gegebenheiten im Musikvereinsgebäude durch Dieter Schmutzer im Vorfeld der Aktion lese ich – soweit ich mich erinnere – jetzt zum ersten Mal; es ist alles schon sehr lange her! Auch kann ich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob ich von einem vorbereitenden Treffen von Dir und Florian damals schon erfahren hatte. Vielleicht hat Florian diese Insiderinformationen mir damals vorenthalten, weil er mich ursprünglich zu dieser Aktion als Partner gewinnen wollte, ich aber abgelehnt hatte, weil ich Schiss hatte.
Dass am 1. Jänner 1982 Reinhardt Brandstätter beim Polizeikommissariat am Deutschmeisterplatz für die festgenommenen Aktivisten interveniert hat, wusste ich natürlich, war ich doch an diesem Nachmittag selbst im Vereinslokal der HOSI anwesend.
Ich bestreite hiermit vehement meine angebliche Aussage für die Publikation Stonewall in Wien 1969-2009, die LAMBDA-Nachrichten hätten über die Neujahrsaktion zwar keine negativen Artikel gebracht, dafür aber (gefälschte) Leserbriefe mit negativen Statements!
Hier könnte eine Verwechslung, ein Missverständnis vorliegen: Ich habe tatsächlich einmal in irgendeinem Interview meine Vermutung geäußert, dass ein Leserbrief zu meinem (satirisch-fiktionalen) Artikel Die Gedanken der Gloria Kain in einer ganz frühen Ausgabe der LAMBDA-Nachrichten (Nr. 3–4/1980, S. 22 f) in Wirklichkeit von einem Vorstandsmitglied der HOSI geschrieben worden sein könnte. Das war in jener Ausgabe, in welcher sich eine axonometrische Zeichnung (ebenfalls von mir und ebenfalls fiktional) von der geplanten Innenausstattung für das Vereinslokal in der Novaragasse sowie mein Aufruf, diesen Ausbau mit Donationen zu unterstützen (S. 18 f), befinden.