Besuch bei den drei Weisen: Ein Erfolg für die Zivilgesellschaft – und die HOSI Wien
Die VertreterInnen der in der Plattform europäischer Sozial-NGOs organisierten Gruppen beim Treffen mit den drei EU-Weisen (sitzend von l. n. r.) Jochen Frowein, Martti Ahtisaari und Marcelino Oreja in Heidelberg am 29. August 2000. Ich vertrete die HOSI Wien und die Plattform europäischer Sozial-NGOs (zweiter von links stehend, teilweise verdeckt).
Wie in den letzten LN angekündigt (vgl. Kurts Kommentar), hat sich die HOSI Wien um einen Gesprächstermin mit den drei Weisen Martti Ahtisaari [1937–2023], Jochen Frowein und Marcelino Oreja bemüht. Mit Erfolg. Die drei Weisen hatten bekanntlich den Auftrag und das Mandat der 14 EU-Partnerländer Österreichs, auf der Grundlage einer eingehenden Untersuchung einen Bericht vorzulegen über 1. das Eintreten der österreichischen Regierung für die gemeinsamen europäischen Werte, insbesondere hinsichtlich der Rechte von Minderheiten, Flüchtlingen und Einwanderern; 2. die Entwicklung der politischen Natur der FPÖ.
Ende Juli statteten sie Österreich einen dreitägigen Besuch ab, um u. a. VertreterInnen der Regierung, der Opposition und von Religionsgemeinschaften zu treffen. Grünen-Chef Alexander van der Bellen lud am 28. Juli interessierte VertreterInnen nichtstaatlicher Organisationen zu einem Gespräch ein und gab ihnen die Gelegenheit, ihn und ULRIKE LUNACEK über ihre Anliegen zu briefen. Außerdem erklärte er sich bereit, als Briefträger zu fungieren und den Weisen Unterlagen der NGOs zu übergeben. Der Autor dieser Zeilen nahm für die HOSI Wien an diesem Gespräch teil (Der Standard vom 31. 7. berichtete). Wir hatten Briefe an die drei Weisen vorbereitet, in denen wir sie um einen Gesprächstermin ersuchten. Außerdem legten wir die von uns erstellte Faktenzusammenstellung über die Chronologie der Nicht-Abschaffung des § 209 durch FPÖVP und der Aufrufe internationaler Gremien und Organe an Österreich, diese menschenrechtswidrige Bestimmung zu beseitigen, bei (vgl. auch Presseaussendung der HOSI Wien; die Faktenzusammenstellung ist auf dem Website der HOSI nachzulesen). Außerdem legten wir eine Kopie eines Artikels aus der französischen Tageszeitung Le Monde bei, die am 19. Juli in ihren ausführlichen Beiträgen über Österreich auch über den menschenrechtswidrigen § 209 berichtete.
Van der Bellen und Lunacek trafen am 29. Juli mit den drei Weisen zusammen, dabei wurde der menschenrechtswidrige Paragraph 209 angesprochen. Die drei Weisen reisten am 30. Juli aus Wien ab, ohne jedoch mit NGO-VertreterInnen gesprochen zu haben. Weitere Besuche in Wien seien nicht geplant, hieß es. Jene nicht zu anzuhören, die an vorderster Front mit den Auswirkungen der politischen Natur der FPÖ und den von FPÖVP zu verantwortenden Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sind – das geht wohl nicht. Das wollten sich die NGOs auf keinen Fall gefallen lassen.
Eugene Sensenig-Dabbous von GenderLink in Salzburg ergriff die Initiative und alarmierte über den europäischen Dachverband ESAN (European Social Action Network), in dem GenderLink Mitglied ist, die Plattform europäischer Sozial-NGOs in Brüssel. Diese Plattform ist ein Zusammenschluß von derzeit 30 europäischen Netzwerken und Dachverbänden, die im Sozialbereich tätig sind. Die ILGA-Europa ist seit März 1998 ebenfalls Mitglied. Weitere österreichische Mitgliedsorganisationen der Plattform-Mitglieder wurden kontaktiert und mobilisiert. Am 3. August schrieb schließlich der Vorsitzende der Plattform, Giampiero Alhadeff, an Staats- und EU-Ratspräsident Jacques Chirac und beklagte den unerklärlichen Umstand, daß die drei Weisen mit keinen NGO-VertreterInnen gesprochen hatten. Ohne eine Anhörung der NGOs könne der Weisenbericht nicht glaubwürdig werden. Kopien des Briefes ergingen auch an die drei Weisen. Der Deutsche Jochen Frowein lenkte dann auch sofort ein und schlug in einer E-Mail an die Plattform am 9. August eine fünfstündige Anhörung von NGO-VertreterInnen in Heidelberg vor. Die Plattform wurde ersucht, diese Anhörung mit ihren österreichischen Mitgliedern zu arrangieren. Außerdem teilte er mit, man habe die Möglichkeit, mit österreichischen NGOs in Kontakt zu treten, ohnehin diskutiert, aber die Schwierigkeit der Weisen sei es gewesen, über die NGO-Struktur in Österreich nicht Bescheid gewußt zu haben. Das war natürlich eine faule Ausrede, denn es hätte ja gereicht, jene NGOs zu treffen, die über van der Bellen oder direkt den Wunsch bekundet hatten, mit den drei Weisen zusammenzutreffen.
Obwohl aus dieser zeitlichen Abfolge klar ist, daß Chirac wohl gar keine Gelegenheit hatte, auf die drei Weisen einzuwirken (weiß man doch, daß im August ganz Frankreich auf Urlaub ist, und muß man wohl vermuten, daß der Präsident nicht innert Tagen auf NGO-Briefe reagiert), bevor diese von sich aus einlenkten, wurde später in den Medien – insbesondere im FORMAT – das anti-französische Ressentiment bedient und Chirac die Schuld zugeschoben, daß die NGOs diese Gelegenheit bekamen, Österreich zu „vernadern“.
Die HOSI Wien hatte sicherheitshalber am 6. August eine E-Mail an Ahtisaaris Sekretär geschickt, um nachzufragen, ob unser durch van der Bellen überreichter Brief auch beachtet worden sei. Wir wiesen auf das Schreiben der Plattform an Chirac hin und betonten, Mitglied der ILGA-Europa, einer der Plattform-Verbände, zu sein. Matti Kalliokoski schrieb am 7. 8. prompt zurück und bestätigte den Empfang unseres Briefes, ebenso, daß viele NGOs um einen Termin gebeten hatten (!). Er meinte, es wäre nützlich, den drei Weisen einen Vorschlag zu unterbreiten, wer die legitimierten GesprächspartnerInnen seien und welche Art von für das Mandat der Weisen relevanten Materialien sie übergeben könnten.
NGOs formieren sich
Eugene Sensenig-Dabbous übernahm schließlich die Koordination und praktische Vorbereitung der Plattform-Delegation in Absprache mit dem Plattform-Sekretariat in Brüssel. Da sich herausstellte, daß auch etliche NGOs Interesse an einem Treffen mit den Weisen hatten, die nicht einem der Plattform-Dachverbände angeschlossen sind, organisierte Max Koch von SOS Mitmensch eine zweite NGO-Delegation. Diese und die Plattform-Delegation teilten sich dann die fünf Stunden Zeit für die Anhörung. Die Plattform erklärte sich bereit, pro Mitgliedsverband einer Person die Reise- und Aufenthaltskosten zu bezahlen. Es war naheliegend, daß der Autor dieser Zeilen als Vertreter der HOSI Wien mit dem ILGA-Europa-Ticket nach Heidelberg fuhr. Da Plattform-Präsident Alhadeff dann nicht selber zur Anhörung fahren sollte, beauftragte er mich, auch die Plattform bei der Anhörung zu vertreten – ich war der einzige in der Plattform-Delegation, der an den Sitzungen des Leitungsgremiums der Plattform regelmäßig teilnimmt, nämlich als Vertreter der ILGA-Europa.
Im Laufe der konkreten Vorbereitungen stellte sich dann heraus, daß die drei Weisen ihr Mandat sehr eng auslegten, das „insbesondere“ hinsichtlich der Rechte von Minderheiten, Flüchtlingen und Einwanderern war plötzlich zu einem „ausschließlich“ geworden, mit Minderheiten waren nur die autochthonen Volksgruppen gemeint, nicht jedoch andere ethnische Minderheiten – und schon gar nicht soziale Minderheiten, wie z. B. Behinderte und Lesben und Schwule. Froweins Sekretär Christian Walter gab Eugene unmißverständlich zu verstehen, daß Frauen-, Behinderten-, SeniorInnen- und Lesben- und SchwulenvertreterInnen erst gar nicht anreisen bräuchten, weil die drei Weisen deren Anliegen nicht anhören würden, da sie nicht in ihr Mandat fielen. Dies parierten wir allerdings mit dem Hinweis, daß die Probleme in all diesen Bereichen natürlich auch Flüchtlinge und EinwandererInnen (GastarbeiterInnen) betreffen.
Ich telefonierte auch persönlich mit Herrn Walter und erklärte ihm, daß die Menschenrechtsverletzungen an Homosexuellen sehr wohl unter das Mandat der drei Weisen fielen. Was Lesben und Schwule angehe, habe ja ohnehin alles auch mit der „politischen Natur der FPÖ“ zu tun. ILGA-Europa emailte an Ahtisaari und faxte an Oreja ein Schreiben und forderte sie auf, unbedingt auch einen Homosexuellenvertreter anzuhören. Die Definition von Minderheiten dürfe nicht auf Volksgruppen beschränkt werden, sondern müsse auch soziale Minderheiten miteinschließen, wolle man alle Aspekte der politischen Natur der FPÖ berücksichtigen, hieß es in dem Brief. Sexismus und Homophobie seien Geschwister des Rassismus und der Xenophobie. Die politische Natur der FPÖ sei der beste Beweis dafür. In ihren Kampagnen seien das Schaffen von Sündenböcken und die Ausgrenzung bestimmter Gruppen typische Elemente, und dies beschränke sich nicht nur auf AusländerInnen, sondern betreffe eben auch Homosexuelle. Schließlich setzte die Plattform-Delegation durch, daß Behinderten-, SeniorInnen- und Lesben- und SchwulenvertreterInnen angehört wurden.
Diese Re-Fokussierung unseres Vorbringens führte dann dazu, daß in das 22seitige von der HOSI Wien zusammengestellte Dossier auch ein Kapitel über die homophoben Angriffe der FPÖ aufgenommen wurde. Das war eigentlich gar nicht geplant gewesen, weil für uns § 209 und die nicht erfolgte Wiedergutmachung für die homosexuellen NS-Opfer die Hauptanliegen waren (siehe auch Presseaussendung vom 27. August). Das Dossier wurde dann am Morgen der Anhörung sofort auf den Website der HOSI gestellt und kann als PDF-Dokument heruntergeladen werden).
Medienhype
Obwohl die drei Weisen die Plattform gebeten hatten, von der NGO-Anhörung nicht viel massenmediales Aufhebens zu machen, wurde sie von den Medien doch ziemlich prominent gecovert, speziell im Vorfeld, was sicherlich am Sommerloch lag und dem Umstand, daß Max Koch schon 18 Tage vor dem Termin bereits den Startschuß gab. Am 11. August gab er im Abendjournal auf Ö1 bekannt, daß es zu einer NGO-Anhörung kommen würde und nannte unter den Teilnehmern auch die HOSI Wien. Am 12. 8. berichteten die ZiB 3, das Ö1-Mittagsjournal und der Kurier, am 13. 8. die Neue Kronenzeitung, wobei jedesmal die HOSI Wien erwähnt wurde. Dies sollte dann auch in den nächsten Wochen so bleiben: Die Teilnahme der HOSI Wien wurde in den Wochenmagazinen (NEWS # 33, 34; FORMAT # 34 und 35, wo – wie im Standard vom 29. 8. – die Liste der NGO-VertreterInnen veröffentlicht wurde; Falter # 34, der fünf der Heidelberg-Reisenden, darunter den Autor dieser Zeilen, im voraus befragte, was sie den Weisen erzählen werden; Die ganze Woche # 35) ebenso wie in den meisten Tageszeitungen erwähnt, besonders ausführlich im Kurier vom 28. 8. CHRISTIAN HÖGL gab dem Kurzwellendienst Radio Österreich International am 25. 7. und FM4-Radio am 28. 7. Interviews. Am 4. 9. wurden Max Koch und ich zu Headline-Talk auf ATV eingeladen, um über den NGO-Besuch bei den drei Weisen zu diskutieren.
Die österreichischen Medien, auch die seriöseren, hatten ziemliche Schwierigkeiten damit bzw. konnten es schlecht in ihr Weltbild einordnen, daß plötzlich VertreterInnen der Zivilgesellschaft politisch dermaßen aufgewertet wurden. Was auf EU-Ebene in Brüssel gang und gäbe ist – nämlich der sogenannte zivile Dialog mit den NGOs –, ist halt in Österreich noch ein Novum, an das man sich erst gewöhnen wird müssen. Sofort wußten manche Medien auch von Streitereien innerhalb der NGOs darüber, wer fahren darf und wer nicht, zu berichten – dabei gab es gar keine. Die meistgestellte Journalistenfrage war denn auch: Wer bezahlt euch die Reise? Als ob sich nicht auch eine kleine NGO eine Bahnfahrt 2. Klasse nach Heidelberg leisten könnte! An den Inhalten waren jedenfalls die wenigsten interessiert. Besonders peinlich Joachim Riedls Glosse Schlußpunkt im FORMAT # 35 vom 28. 8. Kostprobe: Es ist allerdings bemerkenswert würdelos, wie sich diese Kummertruppe in das diplomatische Spiel hineinreklamiert hat. Nicht sich Gehör zu verschaffen ist ihr angelegen, sondern sich mit eitler Aufdringlichkeit in den Vordergrund zu rempeln. (…) Jetzt marschiert die Krähwinkler Widerstandskompanie zum letzten Gefecht. Soviel Ignoranz schrie nach einem Leserbrief (siehe Text nachstehend).
Fühlt sich Jörg Haider von der HOSI nicht vertreten?
Auch ein Politiker hatte Probleme damit, daß die HOSI Wien von den drei Weisen angehört wurde: Martin Strutz, FP-Klubobmann im Kärntner Landtag, kritisierte in einer Aussendung am 23. August: Wenn für linke Vorfeldorganisationen und Homosexuellen-Initiativen eine Einladung erfolgt, gebietet es der diplomatische Anstand, diese Einladung auch für den Landeshauptmann von Kärnten, um den es ja letztendlich auch geht, auszusprechen. Dabei kann ich versichern, daß ich natürlich auch die schwulen Anliegen Jörg Haiders mitvertreten habe. Oder habe ich da jetzt etwas mißverstanden? Staberl schloß sich jedenfalls Strutzens Ansicht an und widmete uns am 31. August in der Neuen Kronenzeitung sogar seine Kolumnen-Überschrift: Die HOSI darf, der Haider nicht. Ja, so geht’s!
Bei den drei Weisen
Am 26. August trafen sich die Mitglieder der Plattform-Delegation noch zu einem Vorbereitungstreffen in Linz. Am 28. August setzte sich schließlich die „Denunziantenprozession“ (© Andreas Unterberger in der Presse vom 30. 8.) in Richtung Heidelberg in Bewegung. Die 13 Mitglieder der Plattform-Delegation waren am nächsten Tag pünktlich um 8 Uhr im Universitätsinstitut Jochen Froweins zur Stelle. Wir wurden von den drei Weisen in ein Sitzungszimmer gebeten. Ich sprach als erster, als Vertreter der Plattform, bedankte mich in deren Namen dafür, daß dieses Zusammentreffen möglich wurde, und stellte die Plattform kurz vor. Danach berichteten die TeilnehmerInnen in verschiedenen Themenbereichen über die Folgen der Regierungspolitik – viel Kritik richtete sich auch gegen Dinge, die die früheren Regierungen zu verantworten haben, speziell was die Diskriminierung von AusländerInnen betrifft. Ich kam noch zweimal zu Wort, einmal beim Thema „ungebrochene Nachwirkungen der Nazizeit“, bei dem ich die nie erfolgte Wiedergutmachung für die lesbischen und schwulen Opfer des Nationalsozialismus zur Sprache brachte, und einmal zum Thema „Menschenrechtsverletzungen“, bei dem es um den § 209 ging. Ich berichtete auch über die beiden jüngsten, unglaublichen Fälle des Michael Woditschka und des August Sulzer, die auch im Dossier geschildert werden (vgl. Österreich aktuell auf S. 22). Bei letzterem Fall handelt es sich um einen Justiz- und Psychiatriemißbrauch, der nur mehr mit einem sowjetischen Gulag zu vergleichen ist – was ich auch den drei Weisen so sagte.
Nach meinen Ausführungen zum § 209 fragte Frowein nach (es war dies eine der ganz wenigen Nachfragen durch die drei Weisen überhaupt), was das nun alles mit der Arbeit der jetzigen Regierung seit dem 4. Februar 2000 und mit Minderheiten und AusländerInnen zu tun habe, was mir Gelegenheit gab, den Ausländer-Aspekt auszuführen, daß nämlich z. B. einem in Österreich lebenden Türken, der (noch) keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, nach einer Verurteilung aufgrund des menschenrechtswidrigen Paragraphen 209 sogar die Abschiebung drohen könnte.
Nach genau zweieinhalb Stunden waren wir mit unseren Ausführungen fertig. Die drei Weisen hatten uns brav zugehört, gaben aber keine Stellungnahme ab, ob sie einzelne von uns vorgebrachte Punkte in den Bericht aufnehmen würden. Zum Abschluß stellten wir uns noch für ein Gruppenfoto auf und überließen dann das Feld den VertreterInnen von SOS Mitmensch & Co. Um 13 Uhr war die NGO-Anhörung dann beendet. Kurz danach tauchte Vizekanzlerin Susanne Riess-Passer auf, um ebenfalls noch mit den Weisen zu reden. Sie stahl den NGOs natürlich die Show bei den Medien.
Nach der Anhörung sprach ich noch mit etlichen der zahlreich anwesenden JournalistInnen aus Österreich, auch mit Eva Linsinger, die am nächsten Tag im Standard völlig aus der Luft gegriffen schrieb: Allgemeines Problemabladen, von der Verweigerung der Gemeindewohnung bis zum Homosexellenparagraphen, tolerierten die Weisen nicht. Dafür war auch ihr Programm zu dicht. Dabei habe ich mindestens fünf Minuten über den § 209 geredet! Antenne Wien gab ich ein telefonisches Interview. Die HOSI Wien schickte sofort nach Ende der Anhörung eine Presseaussendung aus, in der ich mich noch optimistisch äußerte – sollten die drei Weisen ihren Auftrag ernst nehmen, konnten sie unmöglich alles, was die NGOs an Informationen und Materialien übergeben hatten, einfach vom Tisch wischen: Ich kann mir nicht vorstellen, daß die drei Weisen eine eklatante und erwiesene Menschenrechtsverletzung wie den § 209 in ihrem Bericht ignorieren können. Damit würden sie ihre Aufgabe und ihren Bericht ja völlig zur Farce machen. Allerdings trauten wir der Sache schon damals nicht und meinten weiter: Sollte der Bericht der Weisen aber von Anfang an als bloße Alibiübung zur Ausstiegshilfe für die EU-14 angelegt gewesen sein oder die Erwähnung wesentlicher Menschenrechtsverletzungen fehlen, dann werden sich die NGOs, speziell auf europäischer Ebene, wohl überlegen müssen, dazu einen Alternativ-Bericht zu erstellen. Dazu sollte es aber dann nicht mehr kommen, da die Maßnahmen gegen die österreichische Regierung ja bereits vier Tage nach Veröffentlichung des Weisenberichts aufgehoben wurden (siehe folgenden Artikel).
Leserbrief an FORMAT, gekürzt abgedruckt in der Ausgabe 37 vom 11. 9. 2000:
Es zeugt wirklich von hinterwälderischem Banausentum, wenn Joachim Riedl sich über die Anhörung von NGO-VertreterInnen durch die drei Weisen lustig macht. Denn einen solchen Weisenbericht erstellen zu wollen, ohne VertreterInnen der Zivilgesellschaft anzuhören, ist nicht nur völlig abwegig, sondern entspricht längst nicht mehr gängiger EU-Praxis. Der sogenannte „zivile Dialog“ mit NGOs – als Ergänzung zum politischen (mit den Parteien) und zum sozialen (mit den Sozialpartnern) – hat sich in Brüssel längst etabliert und wurde auch in den Schlußfolgerungen des EU-Gipfels in Helsinki letzten Dezember anerkannt, obwohl seine Verankerung in den EU-Verträgen, eine Forderung der Plattform europäischer Sozial-NGOs, auf deren Initiative das Treffen in Heidelberg zurückgeht, noch aussteht. Die Plattform und ihre Mitgliedsverbände werden jedenfalls seit langem zu allen wichtigen Fragen sowohl von der EU-Kommission als auch vom EU-Parlament regelmäßig konsultiert. Daher war es nicht nur naheliegend, sondern auch eine grundsätzliche Frage, im Rahmen der Erstellung des Weisenberichts über Österreich auf eine Anhörung von NGOs zu bestehen. Wenn also jemand im Krähwinkel sitzt – und europäische Entwicklungen völlig verschläft –, dann ist es Herr Riedl.