Russland: Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Anfang April [2017] berichtete die russische Zeitung Nowaja Gasjeta von willkürlichen Massen-„Verhaftungen“ von (vermeintlich) Homosexuellen. Über 100 Männer seien damals in ganz Tschetschenien „festgenommen“ worden. Unter Berufung auf Aktivisten und Behördenquellen berichtete das Blatt auch von Folterungen, zudem sollen mindestens drei Personen während der Behördenaktion ermordet worden sein. Wie viele Männer verschleppt wurden und wie viele noch immer gefangen gehalten werden, ist unklar.
Unterdessen versuchen russische AktivistInnen außerhalb Tschetscheniens, betroffene Männer aus der Region in Sicherheit zu bringen. Ihnen ist klar, dass es für die schwulen Männer in Tschetschenien keine Zukunft gibt. Die einzige Möglichkeit, sie zu retten, ist, sie zu evakuieren, was in der Regel innerhalb von 24 Stunden möglich ist. Viele Betroffene halten sich vor den Behörden versteckt; aus Angst vor Racheaktionen und Ehrenmorden aber auch vor der eigenen Familie.
Das russisches LSBT-Netzwerk – Российская ЛГБТ-сеть – etwa hat ein Notprogramm und eine Telefonhotline für Betroffene eingerichtet, um sie bei der Flucht aus Tschetschenien zu unterstützen. Seit Bekanntwerden der Verfolgung seien bei der Organisation 50 Hilferufe eingegangen, berichtet der St. Petersburger Aktivist Igor Kotschetkow. Da sich die Krise dermaßen rasch verschärft habe, seien der Organisation aber sehr schnell die finanziellen Mittel ausgegangen. Daher wird zu Spenden aufgerufen, um Reisekosten sowie sichere Unterkünfte, Essen und andere Notmaßnahmen zu bezahlen. Über 7.000 Dollar sind über den Aufruf bei All out bereits zusammengekommen: .
Das russische LSBT-Netzwerk informiert auf seiner Homepage und Facebookseite auch regelmäßig in englischer Sprache über die aktuellen Entwicklungen in Tschetschenien: https://lgbtnet.org/en.
Für Kotschetkow steht im übrigen fest: Die Massenverfolgung Homosexueller in Tschetschenien sei „beispiellos in Russland und in der jüngeren Weltgeschichte. Es gibt wenig Zweifel daran, dass wir es hier mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu tun haben.“
Am 15. April berichtete die Deutsche Welle über Spendensammlungen in Finnland, Schweden und Deutschland. Laut DW seien allein in Schweden bereits an die € 170.000 für die Unterstützung Homosexueller in Tschetschenien gesammelt worden. Tatjana Winnitschenko, eine Kollegin Kotschetkows vom russischen LSBT-Netzwerk, berichtete zudem, dass die Botschaften dreier europäischer Staaten bereit seien, für Schwule aus Tschetschenien das Verfahren der Visaerteilung zu beschleunigen. Sie wollte allerdings die Staaten nicht namentlich nennen – aus Furcht, dass die schwulen Flüchtlinge dann von der tschetschenischen Diaspora in diesen Ländern bedroht werden könnten.
Nach den Berichten über die Verhaftungswelle in Tschetschenien hat mittlerweile auch die UNO an Russland appelliert, die Verfolgung Homosexueller zu stoppen. Zudem wurde Moskau aufgerufen, die homophoben Aussagen der tschetschenischen Behörden zu verurteilen, die den Hass und die Gewalt anheizen würden. Die Rhetorik der Behörden fördere ein Klima der Angst unter Homo- und Bisexuellen in der autonomen russischen Kaukasus-Republik, hieß es in einer Stellungnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte. Das UNO-Gremium verlangt die sofortige Freilassung aller noch festgehaltenen Männer. Von den russischen Behörden wurde gefordert, Berichten über Entführungen, widerrechtliche Inhaftierungen, Folter und Tötungen durch lokale Sicherheitsbehörden und paramilitärische Verbände nachzugehen.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat Russland ebenfalls aufgefordert, Homosexuelle in Tschetschenien besser vor Verfolgung zu schützen: „Die russischen Behörden müssen den schrecklichen Berichten nachgehen und die Schuldigen ermitteln und bestrafen“, forderte der Direktor des in Warschau ansässigen OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR), Michael Link. Angesichts des augenscheinlichen Unwillens der lokalen Behörden, irgendetwas zu tun, sei es angebracht, dass Russland selbst einschreite und die Betroffenen schütze, so Link. Auch die EU hatte Russland zur Aufklärung der Vorkommnisse aufgefordert (zu den Reaktionen in Österreich siehe Bericht auf S. 8).
Der britischen Tageszeitung Guardian gegenüber beschrieb einer der Verschleppten sein Martyrium. Während seiner zehntägigen Haft sei er geschlagen und mit Elektroschocks misshandelt worden, berichtete der Mann unter dem Decknamen „Adam“. Mindestens einmal pro Tag seien ihm an Fingern und Zehen Metallklammern angelegt worden, durch die elektrische Schocks durch seinen Körper gejagt wurden. Wenn er trotz der Schmerzen nicht geschrien habe, sei er mit Holz- und Eisenstangen geschlagen worden. Die Wärter hätten die Insassen als „Tiere“ beschimpft und ihnen mit dem Tod gedroht. In jener nicht offiziellen Einrichtung, in der „Adam“ gefoltert wurde, seien auch mehr als ein Dutzend weitere Homosexuelle inhaftiert gewesen.
Andere Verschleppte berichten, dass sie unter Folter gezwungen wurden, die Namen anderer Schwuler zu nennen, und ihre Handys ausgelesen wurden, um ebenfalls weitere Schwule aufzuspüren.
Keine Homosexualität in Tschetschenien
Ein Sprecher des kremltreuen Republikchefs Ramsan Kadyrow hatte die Berichte über Massenverschleppungen bereits Anfang April dementiert. Es gebe keine Homosexuellen in Tschetschenien, und so sei es „unmöglich, jene zu verfolgen, die es in der Republik nicht gibt“, so der Sprecher gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti.
Würden „solche Leute in Tschetschenien existieren, müssten die Behörden sich nicht um sie kümmern, da ihre eigenen Verwandten sie an einen Ort schicken würden, von dem sie nicht zurückkehren können“. Homosexualität steht in der islamisch geprägten Teilrepublik zwar nicht unter Strafe, ist aber geächtet. Der Sprecher von Russlands Präsident Wladimir Putin sagte, es sei nicht Aufgabe des Kremls, sondern der Sicherheitsbehörden, solchen Berichten nachzugehen.
Nachträgliche Anmerkung:
Siehe auch den Folgebericht in den LN 3/2017 und meinen Blog-Beitrag vom 29. Jänner 2019.