Späte Genugtuung
„Die Rückzahlung der Strafen gilt nur für jene Gesetze, die der Verfassungsgerichtshof aufgehoben hat. Das halte ich auch wirklich für gerecht.“ Und: „…dort, wo rechtliche Fehler passiert sind, müssen wir diese Fehler einsehen, zu diesen Fehlern stehen und das auch aufarbeiten.“ Diese Zitate stammen von Johanna Mikl-Leitner – allerdings hat sie diese Aussagen nicht als ÖVP-Nationalratsabgeordnete nach Aufhebung des § 209 StGB durch den Verfassungsgerichtshof im Jahr 2002 getätigt, sondern als nö. Landeshauptfrau 2023, als es darum ging, ihrem rechtsextremen Koalitionspartner Zugeständnisse bei der „Aufarbeitung“ der Corona-Maßnahmen zu machen.
Man kann daher getrost davon ausgehen, dass Mikl-Leitners neues Rechtsverständnis nur opportunistisch geheuchelt ist. Denn wie sonst ist es zu erklären, dass 2002 die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer des § 209 StGB (höheres Mindestalter für schwule Beziehungen) von der schwarz-blauen Bundesregierung nicht in Angriff genommen wurden? Immerhin ging es damals nicht bloß um Verwaltungs- und Geldstrafen, sondern um Gefängnisstrafen.
Bereits 2002 hatte die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien einen detaillierten Forderungskatalog für die Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller vorgelegt – und stieß damit mehr als 20 Jahre lang bei der ÖVP auf taube Ohren. Nun hat Justizministerin Alma Zadić beherzt die Initiative ergriffen: Der grüne Koalitionspartner nutzte eines der seltenen offenen „Fenster der Gelegenheiten“ und sackte den unerwarteten Gesinnungswandel der ÖVP erfolgreich ein. Weiterer Widerstand der ÖVP wäre jetzt unglaubwürdig gewesen. Dank gebührt in diesem Zusammenhang jedenfalls auch Udo Landbauer und der FPÖ.
Diese späte Geste reiht sich jedoch nahtlos in die unsägliche Geschichte der Strafrechtsreform ein, die sich wegen des Widerstands der ÖVP ebenfalls über mehr als 20 Jahre hinzog (vgl. die entsprechende Website-Sektion mit detaillierter Chronik hier). Zu den erbittertsten Reformgegnern zählten Wolfgang Schüssel und Andreas Khol. Selbst zwei Wochen vor der – absehbaren – Aufhebung des § 209 durch den VfGH meinte Kanzler Schüssel, angesprochen auf Österreichs diesbezügliche Schlusslichtposition in Europa: „Wenn wir das letzte Land wären, wäre es mir auch gleich.“ (Vgl. Blog-Beitrag vom 7. Juni 2020)
Mitschuld des VfGH
Der Verfassungsgerichtshof hat sich entgegen landläufiger Volksmeinung in dieser Causa keineswegs mit Ruhm bekleckert (ähnliches gilt übrigens auch für die Menschenrechtsorgane des Europarats ins Straßburg): Erst im fünften Anlauf – als die Kritik aus der Schwulen- und Lesbenbewegung immer massiver wurde – hat sich der VfGH dazu aufgerafft, § 209 als verfassungswidrig einzustufen (vgl. Blog-Beitrag vom 14. August 2022). Davor hatte er vier Beschwerden ab- bzw. zurückgewiesen, die erste 1987 (vgl. meine diesbezügliche Analyse). In diesen 15 Jahren kam es noch zu rund 250 Verurteilungen, für die der VfGH die Mitschuld trägt.
Nur gerecht ist auch, dass die Opfer des Totalverbots (§ 129 I b StG – galt für Frauen und Männer) ebenfalls rehabilitiert und entschädigt werden, wiewohl dieses 1971 vom Nationalrat „aus eigenen Stücken“ abgeschafft wurde, ohne dass es zuvor vom VfGH für verfassungswidrig erklärt worden wäre. Wenn Strafbestimmungen novelliert bzw. aufgehoben werden, um die Rechtsordnung dem gesellschaftlichen Wandel anzupassen, erwartet man in der Regel nicht, dass die bis dahin nach diesen Bestimmungen Verurteilten rehabilitiert werden. Für jene – vorwiegend Frauen –, die z. B. wegen Ehebruchs oder vor der Fristenlösung wegen des Verbots des Schwangerschaftsabbruchs zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden, gab es nach Abschaffung dieser Verbote keinerlei Wiedergutmachung.
Im Fall des § 129 kann man jedoch argumentieren, dass dank der ÖVP dem gesellschaftlichen Wandel erst ziemlich spät entsprochen wurde. Bereits 1964 sowie 1966 sahen entsprechende Entwürfe eine Abschaffung des Totalverbots vor; sie kamen aber nie zur Abstimmung. Die ÖVP-Alleinregierung präsentierte 1968 hingegen einen neuen Entwurf, der den Fortbestand des Totalverbots vorsah. Erst während der SPÖ-Alleinregierung unter Bruno Kreisky fiel § 129 StG schließlich (vgl. Blog-Beitrag vom 25. Mai 2021).
Apropos spät: Im Fall des § 129 gibt es zumindest noch lebende Betroffene. Bei der Wiedergutmachung für die homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus ist es der ÖVP ja gelungen, deren Aufnahme ins Opferfürsorgegesetz so lange (bis 2005) zu verhindern, bis auch die letzten KZ-Überlebenden in dieser Gruppe verstorben waren (vgl. Sektion hier).
Weitere ÖVP-Niederlagen
Die Aufhebung des § 209 sollte übrigens nicht die letzte Niederlage für Schüssel, Khol & Co in ihrem Kampf gegen die Gleichstellung von Lesben und Schwulen bleiben: 2009 wurde ein kurzes Zeitfenster – unter Josef Pröll als ÖVP-Obmann und Vizekanzler – genutzt, um im Nationalrat die eingetragene Partnerschaft (EP) zu verabschieden. Sie war Voraussetzung dafür, dass der VfGH 2017 die rechtliche Trennung von Ehe nur für verschieden- und EP nur für gleichgeschlechtliche Paare als verfassungswidrig aufheben konnte/musste – und damit sowohl die EP als auch die Ehe für alle öffnete (vgl. Blog-Beitrag vom 23. Jänner 2020).
Aufhebung des § 209, Berücksichtigung der homosexuellen NS-Opfer im Opferfürsorgegesetz, eingetragene Partnerschaft und Öffnung der Ehe waren veritable Triumphe über Schüssel, Khol und andere homophobe Eiferer in der ÖVP, aber auch in der FPÖ. Triumphe, die mich als jemand, der all diese Jahre und Jahrzehnte für diese Reformen und Errungenschaften gekämpft hat, mit größter Genugtuung erfüllt haben. Dass die Opfer der verbohrten und menschenverachtenden ÖVP-Politik nun auch noch rehabilitiert und entschädigt werden, stellt für mich die absolute Krönung dieser Bemühungen dar.
Dass Schüssel, Khol und manche andere homophoben Eiferer in der ÖVP das noch miterleben müssen, ist wohl die größte Strafe für sie und sei ihnen daher von Herzen gegönnt. Von ihnen, die so großes Leid über so viele Menschen gebracht haben, ist wohl kaum ein Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung zu erwarten. Andere wie Jörg Haider, der 1996 im Nationalrat ebenfalls gegen die Aufhebung des § 209 gestimmt hat, können sich höchstens noch in ihrem Grab umdrehen…
Nachträgliche Anmerkung: Eine abgewandelte Fassung dieses Beitrags erschien am 1. Dezember 2023 auch als Kommentar der anderen im Standard. Siehe auch hier.