Vor 20 Jahren: Ende der strafrechtlichen Diskriminierung
LOSE SERIE: AUS DEM ARCHIV
Heute vor genau 20 Jahren – am 14. August 2002 – trat die letzte Sonderbestimmung, die das österreichische Strafgesetzbuch gegen Schwule bereitgehalten hatte, endgültig außer Kraft, nämlich § 209, der eine höhere Mindestaltersgrenze für sexuelle Handlungen festlegte. Damit endete auch in Österreich die jahrhundertelange strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen. Spät, aber doch, muss man in diesem Zusammenhang hinzufügen, immerhin war inzwischen das 3. Jahrtausend angebrochen und Österreich eines der ganz wenigen Länder in Europa, deren Strafrecht noch anti-homosexuelle Sonderbestimmungen kannte.
Dieses „Jubiläum“ erscheint mir daher ein geeigneter Anlass zu sein, den über 20 Jahre dauernden Kampf der Schwulen- und Lesbenbewegung gegen diesen Paragrafen (wieder) in Erinnerung zu rufen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil in letzter Zeit manche Medien den Eindruck entstehen ließen, die Abschaffung des § 209 StGB und andere Erfolge in Sachen rechtliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen sei diesen bzw. ihrer Bewegung durch die fortschrittliche Rechtsprechung aufgeschlossener Höchstgerichte quasi in den Schoß gefallen, nachdem die Politik jahre- und jahrzehntelang jeden Fortschritt blockiert habe.
Jüngstes Beispiel dafür ist die „Märchenstunde“ der ZiB-2-History-Sendung am 15. Juni 2022, der ich meinen letzten Blog-Beitrag gewidmet habe.
Keine Glorifizierung und Reinwaschung des VfGH
Leider haben die Glorifizierung und die Reinwaschung des Verfassungsgerichtshofs und anderer Höchstgerichte in letzter Zeit auch in der Lesben- und Schwulenbewegung um sich gegriffen. Ich habe dies bereits vor drei Jahren heftig kritisiert, als die HOSI-Wien-Zeitschrift Lambda eine völlig deplatzierte Jubelhymne auf den VfGH anstimmte. Diese unfassbare Reinwaschung des VfGH ist jedenfalls ein absolutes Armutszeugnis (…), ein Verrat an unserer eigenen Geschichte, wütete ich damals in meinem Blog.
Natürlich darf es eine/n dann nicht wundern, wenn ein solches Narrativ von JournalistInnen, die unbedarft und ohne Vorwissen an die Sache herangehen, übernommen wird und der Riesenanteil ignoriert wird, den die Lesben- und Schwulenbewegung an diesen Fortschritten hatte – wenn die Bewegung selbst ihr eigenes Licht unter den Scheffel stellt bzw. ihre eigene Geschichte vergisst.
Diese Glorifizierung ist und bleibt indes eine veritable Geschichtsfälschung. Denn genau das Gegenteil trifft zu: Der Verfassungsgerichtshof hat durch seine zahlreichen negativen Erkenntnisse größte Schuld auf sich geladen. Er ist keinesfalls diese unabhängige, objektive, neutrale und nur der Gerechtigkeit und den Menschenrechten verpflichtete Instanz (gewesen), als die er oft idealisiert wird. Österreichs Lesben und Schwule haben ihn als reaktionäres Bollwerk erlebt, das ihnen ihre Menschenrechte erst aufgrund ihres massiven Drucks zuerkannte.
Im übrigen ist der Verfassungsgerichtshof politisch besetzt und damit durchaus dem US Supreme Court vergleichbar, der jüngst durch sein höchst umstrittenes Urteil zur Abtreibung von sich reden machte und angekündigt hat, auch in Zukunft durch Rechtsprechung aktiv Politik betreiben zu wollen. In diesem Zusammenhang mag man sich in Erinnerung rufen, dass die FPÖ jedes Mal, wenn sie in die Regierung kam (2000 und 2017), sofort die nächsten zwei freiwerdenden Posten im VfGH für sich reklamierte – und auch bekam!
Justizschelte und Kritik an den Entscheidungen der Höchstgerichte ziehen sich wie ein roter Faden durch meine journalistische Tätigkeit, die ich hier auf meinem Website dokumentiere. Hier wird man fündig, wenn man recherchieren möchte, wie systematisch der VfGH und andere Höchstgerichte den Homosexuellen ihre Menschenrechte jahrzehntelang vorenthalten haben. Meine diesbezüglichen Kolumnen in den LAMBDA-Nachrichten sind so zahlreich, dass ich sie zwecks besserer Übersicht in einer eigenen Abteilung zusammengestellt habe. Im August 2003 listete ich die homophoben Entscheidungen der österreichischen Höchstgerichte auch in einem Kommentar der anderen im Standard kritisch auf.
Egal, ob Reformen in Sachen Gleichstellung durch Gesetzesbeschlüsse im Parlament oder aufgrund von höchstgerichtlichen Entscheidungen erfolgt sind – ohne den Druck der Bewegung wären sie nicht zustande gekommen. Zusätzlich war es von größter Bedeutung, den Boden für die Umsetzung dieser Reformen aufzubereiten, u. a. durch entsprechende Bewusstseinsbildung in der breiten Bevölkerung und bei relevanten und einflussreichen AkteurInnen, wie etwa MeinungsbildnerInnen, JournalistInnen, KünstlerInnen oder WissenschaftlerInnen. Die intensive Lobbytätigkeit und die allgemeine Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit, die die Bewegung in diesem Zusammenhang all die Jahre geleistet hat, sollten und dürfen hier nicht unter den Tisch fallen.
Druck der Bewegung auf den VfGH
Ja, es mag zwar „technisch“ zutreffen, dass es der VfGH war, der dem § 209 schließlich den Todesstoß versetzte, nachdem sich die Politik – genauer gesagt: die ÖVP – der Abschaffung des § 209 bis zum Schluss vehement widersetzt hatte, aber gerade § 209 StGB ist das beste Beispiel dafür, dass auch der Verfassungsgerichtshof erst durch massiven Druck der Bewegung – und speziell in diesem Fall der Homosexuellen Initiative (HOSI) Wien – dazu gedrängt wurde, eine positive Entscheidung zu fällen.
Auf meinem Website habe ich nicht nur die elendslange Chronologie der Lobbying-Aktivitäten der HOSI Wien in Sachen Strafrechtsreform, sondern auch eine Auflistung von Aufforderungen internationaler Organisationen und Gremien an Österreich, § 209 abzuschaffen, erstellt. Denn nach den vielen Jahren des Stillstands und der Blockade hatte die HOSI Wien in den Jahren 1997–2001 ihren Kampf gegen § 209 StGB verstärkt auch auf die internationale Ebene verlegt (ich war damals Vorstandsvorsitzender der ILGA-Europa und nutzte die Möglichkeiten, die diese Funktion bot, in diesem Sinne): Internationale Organisationen sollten diese menschenrechtswidrige Strafbestimmung verurteilen und Österreichs Parlament und Regierung – und indirekt den VfGH – zu Reformen aufrufen. (Man lese auch die entsprechende Einleitung zur gesamten Sektion „Strafrechtsreform“ auf meinem Website.)
Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 209 ist zudem ein Lehrbeispiel par excellence dafür, wie träge, renitent und voreingenommen der Verfassungsgerichtshof sein kann: Denn vier Verfassungsbeschwerden hat der VfGH ab- bzw. zurückgewiesen – drei Beschwerden aus 1986, 1988 und 1989, die die HOSI Wien unterstützte und finanzierte, sowie einen ersten Antrag des Oberlandesgerichts Innsbruck –, bis ihm schließlich aufgrund des Drucks internationaler Menschenrechtsorgane und des Europäischen Parlaments sowie der massiven öffentlichen Kritik der HOSI Wien nichts anderes übrigblieb, als beim fünften Anlass seine früheren Entscheidungen zu revidieren. Ich habe mir damals die Mühe gemacht, diese fünf Entscheidungen zu analysieren – und in der Luft zu zerreißen.
Als sich der Verfassungsgerichtshof 2001/02 wieder mit § 209 beschäftigen musste, erhöhte die HOSI Wien den Druck auf ihn. Nachdem der VfGH den erwähnten Antrag des OLG Innsbruck, § 209 auf seine Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, im November 2001 zurückgewiesen hatte, übte ich in einem Kommentar im Standard scharfe Kritik daran, ebenso in den LN 1/2002. Schon zuvor hatte ich mich sehr skeptisch in den LN 4/2001 geäußert.
Das OLG Innsbruck sollte indes nicht klein beigeben und stellte einen neuerlichen Antrag. Daraufhin setzte der VfGH weiterhin auf Verzögerungstaktik, was die HOSI Wien zu einer scharfen Presseaussendung veranlasste. Ich hatte auf der Pressekonferenz des VfGH am 22. Februar 2002 sehr kritische Fragen an VfGH-Präsident Ludwig Adamovich und seinen Vize Karl Korinek gerichtet.
Als sich – nach einer weiteren Verschiebung – der VfGH im Juni 2002 mit dem § 209 beschäftigen musste, appellierte die HOSI Wien in einer Presseaussendung nochmals an den VfGH: Jedes weitere Hinauszögern dieser Entscheidung verursacht zusätzliche Menschenrechtsverletzungen (…). Am 24. Juni 2002 gab der VfGH sein Erkenntnis bekannt: § 209 ist verfassungswidrig. Er hatte keine andere Wahl mehr: Der nationale und internationale Druck war einfach zu groß geworden.
Im Detail beschreibe ich die Hintergründe, den genannten Druck sowie die Kontroversen rund um die Aufhebung des § 209 in drei ausführlichen Berichten in den LN 3/2002:
§ 209 StGB endlich gefallen – Historischer Sieg für Schwule und Lesben, Riesenschlappe für FPÖVP
Verfassungsgerichtshof – Noch eine Tochter der Zeit
§ 209: HOSI Wien wendet sich an Bundespräsident Klestil
Im letztgelisteten Beitrag berichte ich u. a. über den Schlagabtausch zwischen der HOSI Wien bzw. mir und dem VfGH im Standard.
Ein halbes Jahr später wurde Österreich vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen § 209 verurteilt – in Straßburg waren noch drei Beschwerden anhängig gewesen. Dies war allgemein erwartet worden (vgl. meinen ausführlichen Bericht in den LN 1/2003). Nicht zuletzt, da 1997 die Europäische Menschenrechtskommission (die im Zuge der Reform der Menschenrechtsorgane des Europarats später aufgelöst wurde) in einem britischen Fall ein höheres Mindestalter bereits als Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention gewertet hatte (vgl. LN 1/1998). Euan Sutherland hatte mit seiner Beschwerde die Kohlen für Österreich aus dem Feuer geholt. Allerdings mit Unterstützung der HOSI Wien: Wie ich in den beiden vorhin verlinkten Texten schildere, hatte die HOSI Wien 1995 heftige Kritik an der Europäischen Menschenrechtskommission geübt, die 1992 und 1995 zwei 209er-Beschwerden als unzulässig abgewiesen hatte, und diese Kritik auch dem Präsidenten der EMR-Kommission und dem stellvertretenden Generalsekretär des Europarats übermittelt [vgl. Medienaussendung der HOSI Wien vom 29. August 1995].
Der Protest der HOSI Wien ist die einzige Erklärung dafür, dass die Europäische Menschenrechtskommission dann zwei Jahre später ihre bisherige Spruchpraxis aufgab und unterschiedliche Mindestalter für homo- und für heterosexuelle Handlungen als konventionswidrig einstufte. Denn von 1995 bis 1997 hatten weder in den Wissenschaften noch in der Rechtspraxis anderer Staaten revolutionäre Entwicklungen stattgefunden. Ein Beispiel mehr, dass man nicht nur auf „die Politik“ Druck ausüben muss, sondern auch auf Höchstgerichte, um seine Forderungen durchzusetzen bzw. seine Ziele zu erreichen.
Keine Versöhnung ohne Entschuldigung und Wiedergutmachung
Aber zurück nach Österreich ins Jahr 2002. Aufgrund der hier geschilderten widrigen Umstände der Aufhebung des § 209 StGB durch den VfGH gab es keine Versöhnung. Das Versagen der VerfassungsrichterInnen klar aufzuzeigen und weiterhin anzuprangern war zudem ein wichtiges präventives Unterfangen. Ihr Ansehen ergibt sich nicht qua ihrer Funktion, sondern beruht auf ihrem eindeutigen und unvoreingenommenen Eintreten für die Grund- und Menschenrechte. Jedenfalls rechnete ich am 28. Juni 2002 noch einmal in einem Kommentar im Standard mit den VerfassungsrichterInnen ab: Es ist beschämend, dass der VfGH nicht die Größe hat, seinen Fehler einzugestehen und sich bei den Opfern des § 209 zu entschuldigen, und dass die Republik Österreich diese Menschen nicht ideell und materiell entschädigt. (…) Dabei wäre es aus demokratiepolitischen und justizhygienischen Gründen so wichtig, sich mit solchen Fehlern auseinanderzusetzen und ihre Ursachen und Hintergründe (in diesem Fall schlicht und ergreifend: Homophobie) zu beleuchten.
Die HOSI Wien wandte sich an Bundespräsident Thomas Klestil um Hilfe und Unterstützung. In einer Presseaussendung kritisierte sie am 2. Juli 2002 den VfGH, der diese Kritik zurückwies, worauf wiederum die HOSI Wien in einer weiteren Aussendung replizierte (siehe dazu den oben erwähnten Beitrag in den LN 3/2002).
Als am 1. Oktober 2002 bekanntgegeben wurde, dass die ÖVP-FPÖ-Koalition Karl Korinek zum VfGH-Präsidenten bestellen wollte, hat die HOSI Wien in einer Medienaussendung diese Bestellung heftig kritisiert und später an Bundespräsident Thomas Klestil appelliert, er möge der Bestellung Korineks nicht zustimmen.
Die eigene Geschichte kennen
Ich habe diese Hintergründe hier deshalb so ausführlich dargelegt, weil mich diese Erzählung, Österreichs Lesben und Schwule verdankten ihre Gleichberechtigung einzig und allein den Höchstgerichten, schon immer genervt hat. Selbst politisch bewusste Lesben und Schwule plappern diesen Unsinn ständig nach. Erstens stimmt es inhaltlich nicht – etliche Errungenschaften verdanken wir tatsächlich dem Parlament; mag sein, dass insgesamt davon mehr auf das Konto der Höchstgerichte gehen: Aber niemals darf man das unkommentiert stehen lassen und die Begleitumstände und den Druck verschweigen, der nötig war, damit die Höchstgerichte schlussendlich im Sinne der Gleichstellung und Menschenrechte entschieden haben.