Regierungsprogramm: Grüner Verrat nicht nur schwul/lesbischer Anliegen
Das zwischen ÖVP und Grünen ausverhandelte Regierungsprogramm ist schlimmer als befürchtet. Nicht nur ganz allgemein, sondern gerade auch aus LSBT-Sicht. Und teilweise fragt man sich wirklich, ob die Grünen da tatsächlich bei Kurz auf Granit gebissen haben oder einfach nur zu ungeschickt und unprofessionell waren. So manche Merkwürdigkeit in den Ergebnissen ist einfach nicht nachvollziehbar. Dazu später, denn zuerst will ich mich mit den LSBT-Aspekten befassen.
Totalversagen von Grüne andersrum
Mindestens zwei schwul/lesbische Projekte harren bekanntlich noch ihrer Umsetzung: das sogenannte Levelling-up beim Diskriminierungsschutz im Gleichbehandlungsrecht sowie die Entschuldigung des Nationalrats für die strafrechtliche Verfolgung von Lesben und Schwulen in Österreich im 20. Jahrhundert (gemäß § 129 I b StG bis 1971, gemäß §§ 209, 210, 220 und 221 StGB danach) und die entsprechende Entschädigung dieser Opfer (vgl. meinen Blog-Beitrag vom 21. November 2019).
Beide Projekte kommen im Regierungsprogramm nicht vor. Dabei sind sie wohl keine großen ideologischen Zumutungen mehr für die Türkisen, zumal die frühere reaktionäre ÖVP-Funktionärsgarde um Andreas Khol und Wolfgang Schüssel abgetreten ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Kurz & Co in diesen Fragen ernsthaft noch ein Veto eingelegt haben. Und wenn ja: Wenn die Grünen offenbar Kröten wie etwa die Sicherungshaft oder die Umsetzung der bereits von Türkis-Blau beschlossenen Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) im Asylbereich (Stichwort: Rechtsberatung von AsylwerberInnen durch die Behörde und nicht durch NGOs) schlucken „mussten“, hätte man wohl der ÖVP zumuten können, diesen beiden vergleichsweise harmlosen Punkten zuzustimmen. Wo war da die parteiinterne Lobby von den Grünen andersrum?
Offenbar musste die ÖVP keine einzige Kröte schlucken. Jedenfalls konnte Gernot Blümel im ZiB 2-Interview gestern trotz mehrfacher Nachfrage der Moderatorin keine einzige nennen.
Demütigungen
ULRIKE LUNACEK wird Staatssekretärin für Kunst und Kultur beim grünen Vizekanzler. Das ist einerseits zweifellos eine sehr begrüßenswerte Sache. Aber andererseits eine Demütigung – und auch eine schlechte Lösung, sollte der (grüne) Hintergedanke dabei sein, dass Ulrike mit ihrer Kompetenz und Expertise Werner Kogler in der Regierungsarbeit generell unterstützt. Denn StaatssekretärInnen sitzen ja nicht umsonst traditionell in einem andersfarbigen Ministerium. Die ÖVP hat ihren Staatssekretär als Aufpasser und Kontrolleur auch ins grüne Umweltministerium gesetzt – und nicht ins ebenfalls türkise Finanz- oder Innenministerium! Ulrike wird jedenfalls hier unter ihrem Wert als ausgewiesene Außenpolitikerin geschlagen. Wenn man sie schon nicht als Außenministerin durchsetzen konnte, hätte man zumindest darauf bestehen müssen, dass sie Europa-Staatssekretärin wird.
Apropos Demütigung: Allein die Art und Weise, wie Kurz am Tag der Präsentation des Regierungsprogramms genüsslich das Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 Jahren an den Schulen als wichtiges Thema hervorhob, bei dem die ÖVP von ihrer Linie keinen Millimeter abgewichen ist, hat ja bereits einen ersten Vorgeschmack geliefert, auf welche subtile und weniger subtile Art er die Grünen in Zukunft vorführen und demütigen wird. Denn auch Kurz glaubt ja wohl keine Sekunde daran, dass das die Überlebensfrage Österreichs schlechthin ist – ein Eindruck, der aber entstehen muss, wenn er das ständig so prominent im Mund führt. Es geht ihm nur darum, die Grünen unmöglich zu machen! Und natürlich populistisch im rechten Lager zu punkten.
Bei der Anzahl der Regierungsmitglieder haben sich die Grünen ebenfalls über den Tisch ziehen lassen. Es stimmt zwar, dass die Verteilung der Ministerposten im Verhältnis 11 zu 4 (ohne Staatssekretäre) ziemlich genau dem Verhältnis der Wählerstimmen und Nationalratsmandate entspricht. Aber selbst nach ihrer verheerenden Wahlniederlage 2002 stellte die FPÖ in der Regierung Schüssel II ebenfalls vier Minister (inklusive Vizekanzler), die ÖVP hatte nur neun (beide Parteien verfügten zusätzlich noch über je vier StaatssekretärInnen). Die ÖVP hatte damals sogar 4,3 mal so viele Stimmen und Mandate wie die FPÖ! Heute hat Türkis bloß 2,7 mal mehr Stimmen bzw. Mandate als die Grünen. Daher ist es im Vergleich schon ziemlich unverständlich, dass sich die Grünen mit fünf Regierungsposten abspeisen ließen.
Feig und unwürdig
Am unfassbarsten ist allerdings die Selbstkastration der Grünen auf Seite 200 des Regierungsprogramms. Hier geben sie der ÖVP einen Freibrief, im Falle „besonderer Herausforderungen im Bereich Migration und Asyl“ die Grünen widerstandslos zu überstimmen und mit der FPÖ gemeinsame Sache zu machen. Liebe Grüne – seid Ihr jetzt schon komplett übergeschnappt? Zur Erinnerung: Ihr wurdet u. a. gerade deshalb gewählt, damit Ihr im Fall einer Regierungsbeteiligung türkis-blaue Scheußlichkeiten verhindert – und nicht, damit Ihr Euch im Fall des Falles einfach wegduckt, als ginge Euch das gar nichts an. Mit Verlaub: Das ist eine echte Bankrotterklärung. Das ist wohl das erste Mal in der Geschichte, dass eine Koalitionspartei einseitig einen „koalitionsfreien Raum“ zugunsten des anderen Koalitionspartners ausruft (vgl. meinen Blog dazu hier).
Angesichts solchen Wahnsinns sind dann „Kleinigkeiten“ wie der Umstand, dass sich die neue Regierung nicht für die (etwa von der HOSI Wien von Anfang an geforderte) Schließung, sondern die Reform des König-Abdullah-Zentrums für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) einsetzt, eigentlich gar nicht mehr erwähnenswert.
Man muss leider feststellen: Passend zur Nachweihnachtszeit haben sich die Grünen abräumen lassen wie ein Christbaum. Dabei sind sie ja in einer Position, in der sie es umgekehrt machen könnten, zumal der ÖVP eine echte Koalitionsalternative fehlt.
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LG Simon Tiefenthaler
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Danke, Kurt, das leuchtet ein. Ich hatte mich so gefreut, dass die FPÖ raus ist. Aber nach dem, was Du beschreibst, sieht es nach einem ängstlichen Gefallenwollen der Grünen aus. Die Chance auf progressive Veränderung wurde erstmal vertan. Da kann man nur hoffen, dass die Grünen das wieder gutmachen, indem sie sich im politischen Tagesgeschäft zumindest deutlicher einbringen.